„Ich brauche nur ein paar Dokumente für eine Datenanalyse zum Niemandsland“, erwiderte John so harmlos wie möglich.
„Meinetwegen. Geh und bediene dich, falls du fündig wirst.“
Mit diesen Worten betätigte der Faun einen Schalter an seinem Schreibtisch, woraufhin sich die Gittertür zum Archiv öffnete.
„Normalerweise arbeitest du doch nur tags und nicht nachts. Ich an deiner Stelle würde ja gehen, wenn ich könnte, und mich in einer Bar entspannen“, bemerkte Sonas noch beiläufig, als er sich wieder seinem Lesestoff zuwandte.
John bemühte sich um ein einfaches Lächeln.
„Tja, was soll man machen, wenn die Arbeit ruft“, sagte er achselzuckend und ging durch die Tür.
Das Archiv, gemeinhin auch ‚Unendliches Archiv‘ genannt, enthielt zahllose geheime und der Öffentlichkeit unbekannte Aufzeichnungen, die niemandem als den obersten Beamten des Imperiums zugänglich waren. Es teilte sich in drei Bereiche auf. Im vorderen Teil befanden sich gedruckte Dokumente jeglicher Form. Teils Originale, teils Kopien. Jeden Raum zu durchlaufen war eine Herausforderung und für jemanden, der wie John unter Zeitdruck stand, unmöglich. Dementsprechend standen am Eingang jedes Abteils und Regals kleine Schwebegleiter, auch Sliders genannt, zur Verfügung, die es einem ermöglichten, schneller die Weiten der Räumlichkeiten zu durchqueren. Schnell flog John an den zahllosen Regalen vorbei, ohne diese auch nur eines Blickes zu würdigen. Im mittleren Abschnitt durcheilte er die Datenbanken, wo die gesamten Sicherungskopien des Nachtdienst gespeichert waren. Auch hier verschwendete er keine Zeit, um so schnell wie möglich diesen Bereich des Archivs hinter sich zu lassen. Gewaltig hoch türmten sich die Speichertürme, wie kleine Wolkenkratzer. Die Sliders waren auch dabei als Hilfe gedacht, höherliegende Akten oder Datenspeicher zu erreichen. Jedenfalls schien es unabdingbar für einen Archivar, der hier arbeiten wollte, schwindelfrei zu sein.
Erst als John den dritten und letzten Abschnitt erreicht hatte, und damit sein eigentliches Ziel, drosselte er sein Tempo. Im ,Geheimen Archiv‘, welches eigentlich ein großer Tresorraum war und zu dem nur ausgewählte Schattenmänner Zugang hatten, wurden allerlei wichtige Gegenstände und besondere Artefakte aufbewahrt. Langsamen Schrittes näherte sich John dem Sicherheitsschloss, wobei er sich noch einmal umdrehte, um sich zu vergewissern, dass er allein war.
Dieser Teil des Archivs war nur für wenige Mitarbeiter des Nachtdienst zugänglich. Das John sich nur hier aufhielt, konnte ihn eine Menge Ärger bereiten, weswegen er sich gut für diesen Augenblick vorbereitet hatte. Schnell betätigte er auf seinem Portabile ein paar Knöpfe, so dass eine holografische Abbildung vom Chef des Nachtdienst auf ihn projiziert wurde. Das Hologramm zu erstellen war keine leichte Aufgabe gewesen. John hatte sich dafür in die persönliche Datenbank seines Chefs gehackt. Der Portabile erstellte auch ein DNA-Muster für den Scan. Mit dieser Tarnung konnte John nun das Terminal bedienen, während der DNA-Scanner ihn überprüfte. Als Erstes wurde nach dem Code gefragt, den Felicia für John besorgt hatte. Äußerst konzentriert tippte er jede Ziffer behutsam ein. Nach erfolgreicher Bestätigung öffnete sich eine Vorrichtung zur Blutabnahme von einem Finger. Auch hier hatte Felicia ihm wieder das Gefragte verschafft. Allerdings rätselte John immer noch, wie sie es geschafft hatte, Blut von ihrem Vater abzuzapfen. Leicht zittrig legte er die Ampulle mit dem Blut seines Chefs in die Vorrichtung. Sofort fuhr eine kleine Nadel nach vorne und nahm eine Probe von dem Behältnis. Tief atmete John ein, während die Deckenkameras ihn surrend ins Visier nahmen. Dann kam das bestätigende Signal. Das Schloss öffnete sich und John huschte eilig durch die Türe, wobei die Kameras ihn noch im Blick behielten.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, war er endlich an seinem Ziel angekommen. Der Tresorraum war genauso hell ausgeleuchtet wie das restliche Archiv. Verchromte Spinde zogen sich in verschiedenen Größen in mehreren Reihen gegliedert durch den Raum, wobei jeder dieser Schränke einen Schatz von unermesslichem Wert in sich barg.
Zu Fuß ging John langsam die Spindreihen entlang, wobei er immer wieder zu den Kameras hochblickte. Das Gefühl ständig beobachtet zu werden beunruhigte ihn noch einige Zeit lang, da die Kameras immerhin durch seine holografische Tarnung schauen konnten. Aber diese Technik käme nur zum Einsatz, falls etwas aus dem Archiv gestohlen würde. Bei oberflächlicher Betrachtung würde der Sicherheitsdienst nur den Chef des Nachtdienst sehen. John hoffte, dass dies reichen würde, während er auf der Suche nach dem Stein der Weisen zum Gang S-3 lief. In diesem Bereich musste sich, nach seinen und Felicias Recherchen, der Stein befinden. Immer wieder hielt er vor einem Schrank und las die Inhaltsbeschreibung, bis er schließlich den gesuchten Spind am Ende des Gangs fand. John zögerte und dachte daran, dass er seit Jahrzehnten vermutlich das erste Wesen war, das diesen legendären Stein zu sehen bekam. Dann öffnete er die Schranktür und erblickte darin ein kleines, metallenes Kästchen. Behutsam holte er es hervor und hob den Deckel. So groß war Johns Anspannung, dass ihn der Anblick des Inhalts umso mehr verdutzte. Auch wenn dies der erste Stein der Weisen war, den er leibhaftig zu Gesicht bekam, so hatte er doch schon einige Geschichten über das Aussehen jenes Sternenspringer-Artefakts gehört und zumindest eine gewisse Vorstellung von ihm gehabt. Er hatte erwartet einen kristallförmigen Gegenstand in dem Kästchen vorzufinden. Jedoch befand sich darin ein einfacher silberner Ring mit einem blauen Edelstein. Um sich zu vergewissern, dass er sich nicht irrte, schaute er nochmals auf die Beschreibung an der Schranktür. Klar und deutlich stand dort in gut lesbaren Buchstaben „Stein der Weisen“. Unsicher nahm er den Ring in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Waren Felicias Informationen falsch? Oder ist dies eine Falle?
Vorsichtig spähte er zur Tresortür, die verschlossen war. Er kratzte sich am Kopf und blickte wieder auf den Ring, begutachtete den blauen Stein, der glatt poliert in einer ovalen Fassung lag. Kein Glanz oder Funkeln ging vom ihm aus. Es war scheinbar nur ein einfacher Edelstein. Doch warum sollte ein solch gewöhnlicher Ring im Archiv des Nachtdienst aufbewahrt werden? Und warum wurde er als Stein der Weisen betitelt? Er musste herausfinden, ob es irgendeine Bewandtnis mit dem Schmuckstück hatte. Zögernd und vorsichtig steckte er den Ring an einen Finger seiner rechten Hand. Er rührte sich nicht, atmete kaum und wartete auf eine Reaktion. Auf was genau, wusste er selber nicht. Er hoffte zumindest auf ein Zeichen, auf einen Hinweis, der ihm das Geheimnis des Rings offenbaren würde. Doch nichts passierte. Es schien ein gewöhnlicher Ring zu sein.
John stieß einen tiefen Seufzer aus. Als er jedoch den Ring wieder zurücklegen wollte, merkte er, dass dieser feststeckte. Mit aller Kraft zehrte er an dem Schmuckstück. Doch weder vor noch zurück ließ er sich schieben. Eng umschloss er seinen Finger und verursachte bei seinem Träger ein unangenehmes Kribbeln, das Johns gesamten Körper durchfuhr. Der Schattenmann drehte sich schnell in alle Richtungen und sah sich nach Hilfe um. Nach ein paar weiteren vergeblichen gewaltsamen Versuchen, sich des Rings zu entledigen, probierte er auf andere Weise eine Reaktion zu erzwingen. Zuerst suchte er nach versteckten Knöpfen und Schaltern am Ring, welche ihm vielleicht helfen könnten. Aber als John nichts dergleichen fand, ging er anders vor. Den Stein küssend, anhauchend und zuletzt wie eine Wunderlampe reibend, erhoffte er sich irgendeinen Effekt auslösen zu können. Jedoch blieb alles vergebens. Schon spielte John mit dem Gedanken, sich an Sonas zu wenden und sich somit dem Nachtdienst zu stellen.
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