„Jean, nein!“, rufe ich ihm zu. Er ist drauf und dran, sich in die Schlucht zu stürzen, nur um mir zu zeigen, was passiert ist. Ich springe vor, will ihn aufhalten, aber er weicht mit einem wilden Auflachen aus und ist an mir vorbei, bevor ich ihn greifen kann.
Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass er es schaffen könnte, seinen schweren, plumpen Körper so präzise abzufangen, dass er genau an der Abbruchkante zum Stehen kommt, aber er schafft es. Mehr als das: Er macht mit den Händen weit ausholende Bewegungen, wippt auf den Zehenspitzen und tut so, als würde er das Gleichgewicht verlieren.
„Ja, ja! Ich hab’s begriffen“, rufe ich laut. „Die Frau ist vor den Männern weggelaufen und in die Schlucht gefallen.“
„Oui!“ Jean hört auf, so zu tun, als würde er gleich abstürzen und weicht von der Kante zurück. Ein Stein löst sich unter seinen nackten Füßen und fällt mit lautem Gepolter herab. Ich horche ihm hinterher. Es dauert lange, bis der Nachhall des Aufschlags verklingt.
„Madame“, sagt Jean nochmals und zeigt in die Schlucht. „Tout dangereux, but ...“
„Sehr gefährlich, aber was?“ Zunächst bin ich heilfroh, dass Jean nicht mehr an der Abbruchkante herumturnt, wie ein Selbstmörder, aber was ich mit meinen Worten auslöse, ist noch viel schlimmer: Plötzlich geht er wieder mit zwei schnellen Schritten vorwärts und schwingt sich über die Kante.
Merde! Ich hätte es wissen müssen! Jetzt bringt er sich wirklich um! Warum habe ich ihn bloß gefragt? Ich habe doch gewusst, dass er nicht viel Verstand hat. Ich bin wie gelähmt. Außerdem habe ich Angst vor der Tiefe. Ich kann nicht näher an die Kante herangehen. Ich kann es einfach nicht, und vor allem will ich nicht Jeans zerschmetterten Körper irgendwo tief unter mir entdecken. Ich würde umkippen, und zwar direkt in die Schlucht hinein.
„Lana, Lana, ici Madame!“ höre ich Jeans Stimme.
Ein Glück, er lebt! „Wo ist er, was treibt er da?“ hilflos schaue ich Diego an.
Der zuckt mit den Schultern. „Ich guck mal nach.“ Diego geht zum Rand der Schlucht.
„Bist du wahnsinnig? Bleib da weg!“
Diego schaut sich zu mir um. „Was geht denn mit dir ab? Ich will doch nur gucken, wo Jean ist.“ Er stellt sich am Rand der Schlucht auch noch auf die Zehenspitzen, beugt sich weit vor und schaut hinunter.
Allein von dem Anblick wird mir total schlecht. „Diego, pass auf!“ rufe ich.
„Was denn?“ er dreht sich um und grinst mich an. Plötzlich bricht unter seinem rechten Fuß ein Felsbrocken weg und er rutscht seitlich ab.
„Diego!“ schreie ich.
Er springt hastig zurück und wird etwas blass im Gesicht. „Oh Mist, hoffentlich hat ihn der Stein nicht erwischt. Der steht da unten auf einem Sims.“
Das will ich sehen. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach vorne, lasse mich auf Hände und Knie nieder und robbe schließlich den letzten Meter auf dem Bauch. Die Tiefe tut sich vor mir auf und greift nach mir wie ein Sog, aber ich gebe nicht auf.
„Lana, Lana“, kommt es von unten. Es hört sich ungeduldig an.
Okay, ich komme. Vorsichtig schiebe ich mich noch weiter vor, bis Kopf und Schultern über dem Abgrund hängen. Jean steht ein paar Meter unter mir auf einem schmalen Felsvorsprung. Er winkt mir zu und macht vor lauter Freude mich zu sehen, ein paar wilde Hopser.
„Je Jean, et là-bas: Madame. Je ...“ Er deutet auf sich und auf eine Stelle über ihm. „Là-bas, là-bas Madame en haut!“
„Du hast die Frau nach oben geschoben?“ Meine Finger krallen sich in die Felskante, mir ist so schlecht, wie noch nie in meinem Leben. Ich halte diese Tiefe unter mir einfach nicht aus.
„Ne pas poussez!“ Jeans unter mir schüttelt wild den Kopf, haut sich auf die Finger, schaut sie mit wilden Blicken an, schüttelt noch mal den Kopf und schreit fast schon hysterisch: Ne pas poussez, ne pas poussez, I don’t touch the nalgitas. Non, non, non, non non!“ Wieder schüttelt er energisch den Kopf.
„Na, da hat aber einer ein schlechtes Gewissen“, sagt Diego, der neben mir an der Kante kniet und sich mit abgestützten Händen ebenfalls über die Schlucht beugt.
„Wieso? Was meint er denn? Was hat er nicht angefasst?“ Ich hänge immer noch mit dem Kopf über der Schlucht und kann Diego aus dieser Position heraus unmöglich ansehen, aber ich höre es an seiner Stimme, wie er grinst.
„Na die Nalgitas. Ihre Pobacken hat er nicht angefasst.“
Jean fängt mit einem Mal an, nach oben zu klettern. Dabei schaut er immer wieder zu mir hoch und macht Bewegungen mit einer Hand, so als würde er etwas Schweres über sich schieben. „Poussez! Lana, poussez, but dont touch, non non non!“
Mir wird ganz schlecht, wenn ich sehe, wie er da mit nur einer Hand im Felsen hängt und mit der anderen die wildesten Gesten macht. Plötzlich löst sich der Brocken, an den sich seine Hand klammert. „Paß auf!“ will ich rufen, aber der Felsbrocken stürzt schon in die Tiefe.
28 PASCALS PLAN
Pascal war außer sich vor Wut und er ließ es seinen Wagen spüren. Keine zehn Minuten hatte die Verfolgung gedauert, dann hatte er den Porsche aus den Augen verloren. Daran war nur diese lahme Mistkarre schuld, die er billig von dem Sohn eines Exil-Algeriers gekauft hatte. - Verdammter Algerier, verdammter Spanier, der hier im Porsche herumfuhr, verdammter Vater von Lana, der sich weigerte, ihr den Umgang mit diesem Kerl zu verbieten! Und Lana selbst war auch nicht besser. Wie das letzte Flittchen hatte sie sich diesem Diego an den Hals geworfen. Widerlich!
Die Reifen jaulten schrill auf, als Pascal den Wagen in die nächste Kurve zwang. Immer weiter raste er ziel- und planlos über die Nebenstraßen, getrieben von der Hoffnung, den Porsche doch noch irgendwo zu entdecken. Um ein Restaurant oder eine Bar aufzusuchen, war es noch viel zu früh. Bestimmt kannte Diego hier einen verschwiegenen Ort, an dem er es mit Lana treiben konnte, aber damit würde Schluss sein, wenn Pascal sie fand. Immer wildere Szenen entstanden in seiner Phantasie: Er würde Diego beiseite fegen wie eine Stoffpuppe. Ein, zwei Schläge mussten reichen, dann würde dieser Schönling für Wochen außer Gefecht sein, und dann würde er sich Lana vornehmen. Er würde ihr erklären, dass er sie liebte und sie würde endlich begreifen, dass sie zu ihm gehörte. Hatte er nicht alles getan, sie zu beschützen? Hatte er sie nicht Tag und Nacht beobachtet, um zu wissen, wie weit sie in ihrem Leichtsinn ging? Sie musste es doch sehen, wie sehr er sie liebte.
Lana musste es einfach erkennen. Wenn sie erst sah, dass dieser Diego sie nicht beschützen konnte, würde sie in seine Arme kommen, und dann würde er das tun, wovon er schon seit Jahren träumte. Er würde ihr zeigen, wer der Boss ist, und sie würde es nie wieder wagen, auch nur einen Schritt weit von seiner Seite zu weichen.
Einem plötzlichen Impuls folgend stieg Pascal voll auf die Bremse und bog in einen schmalen Seitenweg ein, der sich am Hang eines Hügels emporzog. Die Gegend hier war völlig einsam. Kleine Waldstücke wechselten sich mit Wiesen ab, auf denen der sanfte, warme Wind immer neue Wellenmuster erzeugte.
Pascal nahm das alles nur am Rande wahr. Er suchte den Porsche, aber außer einem alten, gummibereiften Anhänger, den wohl ein Bauer hier abgestellt hatte, war bis zum Ende des Weges nichts zu entdecken.
Etwas ernüchtert wendete Pascal und fuhr den Hügel wieder hinab. Einen Augenblick lang hatte er geglaubt, dass sein Instinkt ihn auf die richtige Spur geführt hatte, aber das war ein Irrtum gewesen. Es hatte nicht viel Sinn, auf diese Art zu suchen, das sah er jetzt ein. Trotzdem ließ er auf dem Heimweg keinen Feldweg und keine Nebenstrecke aus. Schließlich konnte man ja nicht wissen, ob hinter der nächsten Baumgruppe nicht doch Lana und Diego in ihrem Liebesnest lagen.
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