Unmöglich, jetzt noch zu bremsen. Und selbst wenn? Es ist sicher, dass der rasende Laster uns auch dann überrollen wird. Panisch schreie ich auf und kralle meine Hände in den Sitz.
Diego reagiert mit der Schnelligkeit eines Raubtiers. Statt zu bremsen, wie es wohl jeder getan hätte, hat er das Gaspedal schon blitzschnell voll durchgetreten. Der Porsche gehorcht sofort. Der Motor faucht auf, wie eine Raubkatze im Angriff und die Beschleunigung presst mich brutal in den Sitz. Ich hänge an der Rücklehne wie festgeklebt und sehe mit ungläubigem Entsetzen den riesigen Kühler des Lasters auf uns zu kommen, während unser Wagen immer noch schneller wird.
Schon nimmt der Lastwagen die halbe Spur ein. Diego visiert die Lücke an und der Porsche schießt mit aufbrüllender Maschine ein paar Zentimeter vor der gewaltigen Stoßstange vorbei, die nur den Bruchteil einer Sekunde später die Felswand streift.
„Warum hast du das gemacht?“ keuche ich und zittere am ganzen Körper, während ich Diego ungläubig anstarre.
Diego antwortet nicht. Er tritt voll auf die Bremse, während er den Porsche nahe an die Felswand lenkt, reißt die Tür auf und springt aus dem Auto. Schon läuft er die Straße zurück zu dem LKW, der nun, nach dem Zusammenprall mit der Felswand, an den Rand der Schlucht geschleudert wurde.
Schnell folge ich ihm und sehe mit Entsetzen, wie er auf den Tritt vor der Fahrertür springt und an der Tür herumzerrt. Dagegen ist ja an sich nichts einzuwenden, wenn die halbe Fahrerkabine nicht schon über dem Abgrund hängen würde.
Die Kabine ist auf der Fahrerseite von dem Aufprall auf die Felsen stark beschädigt. Der Fensterholm ist eingedrückt und die Tür ist total deformiert. Unmöglich, sie einfach so zu öffnen. Was hat Diego nur vor?
Ich sehe im Laufen unter dem Laster hindurch. Das rechte Vorderrad dreht sich noch in der Luft, während der zerfetzte linke Reifen bedrohlich knirschend den Schotter an der Kante zur Schlucht immer mehr zusammendrückt. Der Lastwagen schwankt gefährlich, als Diego schließlich die Fahrertür aufreißt, sich mit einer Hand am Rahmen festhält und den anderen Arm um den Fahrer schlingt, um ihn herauszuziehen.
„Diego!“ brülle ich im Laufen verzweifelt, „pass auf, das Ding stürzt gleich ab!“
Der Fahrer taumelt in Diegos Griff auf die Straße und schaut sich mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Laster um. „Mon Dieu!“ flüstert er.
„Wie geht es Ihnen?“ Diego fragt ganz ruhig und legt dem Fahrer dabei eine Hand auf die Schulter. Dieser weicht vor der Berührung erschrocken zurück und starrt Diego an, als habe der ihn schlagen wollen. Schließlich entspannt er sich etwas und murmelt leise mit gesenkten Augen und immer noch auf Abstand bedacht: „Merci Monsieur, geht schon wieder ganz gut.“
„Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?“ Diego bewahrt jetzt auch den Abstand, den der Fahrer gewählt hat und schaut ihm dabei aufmerksam ins Gesicht.
Der Fahrer schielt Diego misstrauisch von unten herauf an und murmelt, „Nein, nein, ich benachrichtige meine Leute, die werden mir schon helfen!“
Eine merkwürdige Antwort, überhaupt ein merkwürdiges Verhalten für jemanden, der gerade aus Todesgefahr gerettet wurde. Es ist fast so, als hätte der Fahrer mehr Angst vor Diego als vor der Gefahr, in der er sich eben noch befunden hat. Was mir allerdings noch mehr zu denken gibt, ist, dass Diego anscheinend versteht, wovor der Fahrer Angst hat. Was ist da los? Verwirrt beobachte ich die Szene, wende mich schließlich ab und gehe zum Auto zurück.
Es dauert nicht lange, da schwingt Diego sich mit unbewegter Miene auf den Fahrersitz und startet den Wagen. Ich schaue ihn von der Seite an. „Hätten wir ihm nicht helfen sollen, die Polizei rufen oder so?“
„Der Typ kommt zurecht. Seine Leute leben hier in der Nähe“, meint Diego.
„Was für Leute?“
Diego schüttelt unwillig den Kopf. Er sagt nichts weiter und schweigend fahren wir los. Als wir wieder in einem ruhigen Dahingleiten der Bergstraße folgen, taucht vor meinem inneren Auge plötzlich die schreckliche Szene von eben wieder auf.
„Warum hast du das gemacht, Diego?“
„Was denn?“, fragt er, etwas zu cool, zurück.
Klar! Da war ja auch nix! Macho! „Na, Gas geben, anstatt zu bremsen. Wir hätten tot sein können!“
„Ja!“
- Einfach nur „Ja“, das ist alles? „Und da fährst du wie ein Irrer auch noch auf die Gefahr zu? Du musst wahnsinnig sein!“
„Wieso? Hat doch geklappt!“, verteidigt sich Diego. „Würdest du jetzt lieber unter dem Laster auf den Krankenwagen warten? – Oder besser auf den Leichenwagen, nehme ich mal an.“
„Jeder vernünftige Mensch ...“, beginne ich, werde aber sofort von ihm unterbrochen.
„... hätte gebremst und wäre jetzt schwer verletzt oder tot!“, führt er den Satz zu Ende. „Ist es das, was du von mir erwartest? Dass ich mich benehme wie ein Durchschnittstyp? Dann muss ich dir leider sagen, dass du an meiner Seite völlig falsch bist!“
„An deiner Seite?“ Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. „Hast du an meiner Seite gesagt?“
Diego tritt voll auf die Bremse und die Bremskraft des Wagens ist noch viel stärker, als seine Beschleunigung. Ich werde hart in den Gurt geschleudert und pralle unsanft an die Rücklehne, als der Porsche mit einem Ruck zum Stillstand kommt. Diegos Kopf schnellt zu mir herum. „Ja!“, stößt er fast schon wütend hervor. „Ich habe an meiner Seite gesagt! Passt dir das nicht?“
Ich kann das irgendwie nicht glauben, was ich da höre. „Du siehst mich als – Frau an deiner Seite?“
„Was denn sonst?“
„Du magst mich?“
„Mehr als das!“
„Du – liebst mich?“ frage ich mit bebender Stimme unsicher nach und fühle mich dabei wie in einem Traum oder in einem rührseligen Liebesfilm.
„Ja!“
„Das war die schönste Liebeserklärung, die ich je bekommen habe.“
„Wie viele waren es denn bislang?“
„Äh, eine. Aber deine war besser!“
„Tröstlich!“, meint Diego und grinst mich mit einem Mal so richtig frech an. „Und? Ist der Typ noch im Rennen?“
„Lange vergessen!“, grinse ich zurück. „Da war auch nicht wirklich was. Mehr ein guter Freund, verstehst du? Nicht, dass du meinst ...“
„He, warte mal.“ Diego macht eine abwehrende Handbewegung. „Erzähl mir bitte nur das, was du mir auch wirklich erzählen willst. Dass du auch schon gelebt hast, bevor ich dich kennen gelernt habe, ist mir klar. Du brauchst dich für nichts zu rechtfertigen.“
„Mach ich ja auch nicht“, protestiere ich. „Ich hab auch nichts zu verbergen. Mein Leben war total langweilig, bevor ich dich kennen gelernt habe.“
„Du veralberst mich!“, meint Diego und schaut mich nachdenklich an.
„Nur ein wenig“, gebe ich zu. „Findest du Küssen eigentlich widerlich?“ Warum kommt mir das jetzt in den Sinn und nicht nur das, sondern auch noch unkontrolliert über meine Lippen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur eins, ich will ihn unbedingt jetzt spüren, streicheln, küssen und zwar sofort! Innerlich zittere ich immer noch wegen der überstandenen Gefahr.
„Überhaupt nicht.“ Diego beugt sich über die Mittelkonsole zu mir. Ich halte ihm mein Gesicht hin. Er umfasst es sanft mit beiden Händen. Ich schlinge meine Arme um ihn. Zärtlich berührt er mit seinen weichen Lippen meinen Mund und fährt spielerisch ganz leicht mit der Zunge darüber. Ich öffne meine Lippen. Ein wohliger Schauer durchläuft mich, als ich spüre, wie sich unsere Zungen treffen und miteinander spielen. Für einen Moment wird die ganze Welt warm und weich. Wow, ist das toll, zu leben!
Aufseufzend lehnt Diego sich zurück und schaut mich an. „Ich liebe dich Lana“, sagt er leise. „So wie mit dir ist es mir noch nie ergangen.“
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