Ganz benommen lehne ich meinen Kopf an die Rücklehne und flüstere atemlos „Mir auch nicht, noch nie!“
Erneut seufzt er auf, nimmt den Fuß vom Bremspedal und fährt weiter. Schade, ich hätte noch ewig so mit ihm schmusen können.
Plötzlich fällt mir wieder ein, dass wir ja aus ganz anderen Gründen in die Berge unterwegs sind. Wie kann ich nur so egoistisch sein? Ich hatte Felix in diesem Moment völlig vergessen.
27 DER HIRTE
Je länger die Fahrt dauert, um so stiller und nachdenklicher werde ich. Was wird uns erwarten? Was oder wen werden wir finden?
Auch Diego ist schweigsam. Mit einem Mal zeigt er nach vorne. „Da ist Mons.“
Der kleine Ort zieht sich festungsgleich auf der langgestreckten Kuppe eines Bergrückens entlang. Der helle Sandstein der alten Bruchsteinhäuser mit den roten Ziegeldächern leuchtet im warmen Licht der Sonne. Eine hohe Mauer stützt den Ort zur Bergseite hin ab. Ein kleiner Kirchturm vervollständigt das mittelalterliche Bild, das dieses Örtchen bietet. Mons! Mit einem Mal beschleunigt sich mein Puls. Ich richte mich etwas auf und recke den Hals, um besser sehen zu können.
Plötzlich biegt Diego kurz vor Mons auf eine schmale Seitenstraße ab, die in weitem Bogen in die Berge zu führen scheint.
„He, wohin fährst du? Wir wollen doch nach Mons!“ protestiere ich.
„Dort werden wir nichts herausfinden, ich weiß was Besseres.“
Verbissen presst Diego diese Worte zwischen den Lippen hervor.
„Aber dort ist Fel..., also die alte Frau doch gefunden worden!“ widerspreche ich ganz irritiert. Was hat er bloß vor?
„Nein Lana! Ich habe mit den Leuten vom Sender gesprochen. Das war hier in den Bergen.“
Erstaunt schaue ich Diego an. Wieder einmal werde ich das Gefühl nicht los, dass er mehr weiß, als er mir sagt. Auch Diegos Zielstrebigkeit macht mich stutzig. Es wirkt auf mich, als wisse er genau, wo wir mit der Suche beginnen müssen.
Ich lehne mich wieder zurück und beobachte ihn von der Seite. Wie ein Kampfstier, kommt es mir plötzlich in den Sinn. Diese Wut, dieser blanke Hass, der sich in seinem Gesicht widerspiegelt. Die Art wie er den Schalthebel betätigt und aufs Gaspedal tritt, da ist nichts mehr von dem sanften Dahingleiten von vorhin.
Nach dem zärtlichen, liebevollen Diego habe ich gestern den verzweifelten Diego kennengelernt. Und jetzt habe ich einen hasserfüllten Diego neben mir, und der macht mir Angst.
Wir holpern über eine alte Steinbrücke, die einen kleinen Bachlauf überspannt und ich halte mich erschrocken am Scheibenrahmen fest. Die schmale Straße führt in die Berge hoch. Wir fahren am Rand einer dunklen Schlucht entlang. Diesmal ist der Abhang rechts von uns und ich fühle mich bei der intimen Nähe zu dieser Tiefe nicht besonders wohl. Vor allem in den Kurven macht mein Magen einen Hopser nach dem anderen.
Ich schaue zu Diego hinüber. Er starrt konzentriert auf den Weg, der hier schon sehr uneben ist. Nicht gerade ideal für so einen flach auf der Straße liegenden Sportwagen. Nach einer weiteren Linkskurve verlassen wir endlich die Schlucht und rollen langsam über ein steiniges Hochplateau bis zu einem Wäldchen.
Es riecht nach Harz und feuchter Erde. Kurze Zeit später weichen die Bäume etwas zurück. Vor uns erstreckt sich ein Stück mageres Weideland, auf dem ein paar Ziegen grasen. Diego stoppt den Wagen. Der Boden ist hier so steinig und der Weg so zerklüftet, dass der Porsche die Weiterfahrt nicht schaffen würde. Neben der Piste ist nur noch nackter Fels mit ein paar Grasinseln hier und dort.
Diego dreht sich zu mir um. „Wenn du noch was erledigen willst, bevor wir losgehen, dann wäre jetzt die Gelegenheit dazu. Ich bräuchte auch mal gerade drei Minuten für mich.“
„Warum denn?“ Ich muss wohl irgendwie ziemlich geistlos gucken, denn er lacht mit einem Mal laut auf.
„Ich meine, wenn du mal musst, dann mach es besser jetzt, später hast du vielleicht keine Möglichkeit mehr dazu", erklärt er immer noch grinsend. „Büsche sind selten hier oben.“
„Ha, ha, sehr witzig!“ ist alles, was ich darauf erwidern kann und steige aus. Mann, bin ich heute wieder geistreich und schlagfertig! Aber ich muss tatsächlich mal, also bahne ich mir einen Weg durch das Unterholz des Wäldchens und suche ein lauschiges Plätzchen. Kaum habe ich meine Shorts wieder hochgezogen, als ich zwischen den Bäumen einen Schatten huschen sehe. Erschrocken verberge ich mich hinter dem nächsten Baumstamm und ziehe schnell den Reißverschluss hoch. Mein Herz pocht bis zum Hals. Wer war das, oder besser was war das?
Ich denke an Wilderer und Wildschweine und alles, was sonst noch so mit dem Wort ‚wild‘ in Verbindung gebracht werden könnte. Papa würde jetzt sicher sagen, dass ich das meiner wilden Phantasie verdanke. Das kann mich im Moment aber auch nicht beruhigen.
Eine Weile verharre ich noch hinter dem Baum und lausche in die grüne Dunkelheit, die mich umgibt. Warum bin ich auch so weit in den Wald hineingegangen? Wie albern! Ich hätte mir doch auch am Waldrand einen Platz suchen können. Diego würde ja wohl kaum ein Fernglas auspacken, um mich zu beobachten.
Alles ist still. Schnell suche ich den Weg zurück und komme mehr oder weniger panisch aus dem Wald geschossen, als ich hinter mir mit einem Mal ein lautes Knacken höre.
Diego kommt mir entgegen und ich renne ihn fast um. „Mensch Lana, wie lange brauchst du denn für so was? Ich hab mir schon ...“ Erstaunt schaut er mich an, während ich mich keuchend umdrehe und ängstlich den Waldrand beobachte. „Was ist los?“
„Da war was, oder wer“, ich keuche immer noch atemlos. „Da hat sich was bewegt zwischen den Bäumen, ich hab‘s genau gesehen.“
„Was genau hast du gesehen?“ Diego sieht mir besorgt ins Gesicht und schaut dann ebenfalls misstrauisch zum Waldrand hinüber.
„Ich weiß nicht, eine Gestalt, ein Huschen, eine Bewegung eben.“
„Komm“, Diego nimmt meine Hand und zieht mich langsam zum Auto zurück, während er weiterhin den Waldrand beobachtet. „Hier oben gibt es ein paar streitlustige Leute. Besser, wir verkrümeln uns erst mal.“
Na, das beruhigt mich jetzt aber sehr. Schön, dass ich das nun auch schon erfahre.
Gerade haben wir den Wagen erreicht, als Sprachfetzen aus dem Gebüsch dringen. Ein gutes Stück von uns entfernt tritt ein Mann in fleckigen, zerrissenen Jeans auf die Lichtung. Noch hat er uns nicht bemerkt. Laut auf sie einredend schleppt er eine meckernde Ziege auf den Armen. Die Ziege zappelt und ist mit dieser Behandlung ganz offensichtlich nicht einverstanden. Er redet weiter auf sie ein in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Einige französische Laute mischen sich mit spanischen, italienischen und auch mit englischen Wortfetzen. Endlich setzt er die Ziege ins Gras zurück und gibt ihr mit seinem nackten Fuß einen Tritt in Richtung der Herde. Dabei gestikuliert er wild und schreit mit tiefer rauer Stimme: „Go ahead! Là-bas!“
Die Ziege trottet los und er knurrt ihr noch ein paar wütend ausgestoßene Verwünschungen hinterher, während er das Kinn immer wieder in ihre Richtung reckt und drohende Gebärden macht.
Plötzlich lacht er laut auf und dreht sich dabei zu uns um. Erschrocken erstarrt er mitten in der Bewegung, duckt sich und dreht sich halb von uns weg. Seine dunklen Augen wandern hektisch zwischen uns, dem Waldrand und den Ziegen hin und her und er weiß ganz offensichtlich nicht, was er tun soll.
„Da haben wir wohl den Dorfdeppen gefunden“, meint Diego leise.
Stimmt! Nach dem ersten Schrecken wird mir bei diesem Anblick klar, dass da jemand vor uns steht, der nicht mit sehr viel Verstand gesegnet ist. „Keine Angst“, rufe ich und winke ihm lächelnd zu.
Vorsichtig richtet er sich auf. Sein Mund steht offen und er schaut mich erstaunt mit großen Augen an. Schließlich hebt er zögernd eine Hand bis in Brusthöhe und winkt leicht. Man hat ihm wohl beigebracht, zurück zu grüßen, wenn er gegrüßt wird. Um so besser. Wenn er sich so was merken kann, weiß er vielleicht auch noch andere Sachen. Langsam gehe ich auf ihn zu.
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