„Lass den“, Diego hält mich fest, „Das ist doch bloß ein Idiot. Siehst du das nicht?“
Ich mache mich von Diego los, gehe um den Wagen herum und nehme eine Nektarine aus unserem Picknick-Korb. Wie ich vermutet habe, ruckt der Kopf des Hirten zu der Nektarine herum. „Schau mal Diego! Der weiß, was gut schmeckt.“
„Was hast du vor? Willst du ihn dressieren? Komm lass uns gehen, du verschwendest nur deine Zeit“, brummt Diego ärgerlich hinter mir.
„Jetzt lass mich doch!“ Ich bewege die Nektarine vor mir hin und her, während ich mich näher an den Mann heranpirsche. Wie erwartet folgt er der Bewegung meiner Hand mit gierigen Blicken, während er unruhig mit den Füßen trampelt. Fast so wie Dusty gestern Nachmittag am Strand.
„Willst du die haben?“ frage ich, als ich nahe genug bei ihm bin. Uns trennen ungefähr noch zwei Meter, aber da ich merke, dass er nervös wird, lege ich die Frucht vorsichtig ins Gras und ziehe mich etwas zurück. Erstaunt schaut der Hirte auf die Nektarine im Gras und dann auf mich. Dabei stößt er brummende Laute aus.
„Nimm sie dir, die ist für dich“, sage ich mit freundlichem Ton.
Misstrauisch nähert er sich mit tapsenden Schritten der Frucht, wobei er mich nicht aus den Augen lässt. Je näher er mir kommt, um so mehr duckt er sich und geht schließlich seitlich in gebückter Haltung mit vor dem Gesicht erhobenen Händen. Wild schüttelt er dabei den Kopf, während er versucht, gleichzeitig mich und die Nektarine im Auge zu behalten. „Ne pas touchez Madame, only das!“ Mit einem zitternden Finger deutet er auf die Nektarine im Gras und hebt die Hand dann schnell wieder vor sein Gesicht.
Schon klar: Er will nicht mich anfassen, sondern sich nur die Frucht schnappen. Aber warum betont er das so?
„Ich bin Lana“, sage ich und deute dabei auf meine Brust. Der Mann starrt mich an. Langsam richtet er sich auf und schaut auf seine ausgebreiteten Hände, die er schließlich dicht vor seine Augen hält. Ratlos schaut er dazwischen hin und her. Mit einem Finger beginnt er, auf den anderen herumzutippen, während er leise murmelt. Was tut er da? Nach einer ganzen Weile schaut er wieder mit offenem Mund auf mich und schüttelt energisch den Kopf.
„Wie ist dein Name?“ Ich deute mit der Hand in seine Richtung. Erschrocken duckt er sich und weicht mit einem wimmernden Laut etwas zurück.
„Nein, nein. Lana tut dir nichts. Lana schenkt dir diese Frucht. Schau, die ist für dich.“ Bei diesen Worten deute ich auf die Nektarine im Gras. „Wie ist dein Name, wie heißt du?“
Hinter mir höre ich Diego etwas von „Ich Tarzan du Jane“ murmeln. Ich ignoriere das.
Geduldig wiederhole ich meine Geste und meinen Namen und frage abermals „Wie ist dein Name?“ Wieder deute ich auf ihn und plötzlich merke ich, wie es in seinen trüben Augen aufblitzt. „Jean“ stößt er heißer hervor, haut sich dabei auf die Brust und stößt ein kehliges Lachen aus. „Jean!“ Stolz schaut er mich an und nickt.
„Dein Name ist Jean? Ein schöner Name“, lobe ich ihn und zeige wieder auf die Frucht im Gras. „Die ist für Jean!“
Er schaut auf die Nektarine, hebt langsam den Kopf und sieht mich an. „L-a-n-a“, bringt er stockend hervor und zeigt auf mich. Sein Finger wandert zu der Nektarine und von dort weiter zu sich „Jean?“
„Ja, genau! Lana schenkt sie Jean.“
Jean stößt ein unsicheres Lachen aus, schießt plötzlich vor, schnappt sich die Frucht und weicht dann in sichere Entfernung zurück. Dabei hält er die Nektarine schützend vor das bräunlich verfleckte ehemals gelbe T-Shirt. Vorsichtig geht er ein paar Schritte rückwärts, ohne uns aus den Augen zu lassen. Sorgsam legt er die Frucht auf einen Stein am Waldrand, zieht ein Tuch aus seiner Hosentasche und deckt es behutsam darüber. Dabei beobachtet er unter seinen wulstigen Augenbrauen hervor nervös und feindselig einen Ziegenbock, der in einiger Entfernung grast.
Ich wende mich zu Diego um, der am Wagen steht und uns mit ziemlich genervtem Gesichtsausdruck beobachtet. „Siehst du, er hat verstanden.“
„Na toll! Ist ja schön, aber was soll das bringen? Wenn das Gespräch zwischen euch in diesem Tempo weiter geht, baue ich in der Zwischenzeit am Besten schon mal einen Unterstand. Dann können wir hier nämlich übernachten, bis du etwas über die alte Frau erfahren hast.“
„Frau?“ kommt es plötzlich fragend und unsicher von Jean. Mein Kopf schnellt herum. Jean steht da und schaut uns mit weit aufgerissenen Augen aufgeregt an. „Frau?“ wiederholt er, „Old?“ fügt er noch hinzu und wird immer unruhiger.
„Ja eine alte Frau, old, wir suchen sie.“
Jean schüttelt den Kopf. „No, no, Jean Ziege!“ stößt er hervor und klopft sich dabei auf die Brust.
„Jean hat eine Ziege gesucht?“ vermute ich.
Wild nickt er. „Ziege Frau, this Angst, läuft läuft läuft!“ Verzweifelt ringt er die Hände, während seine Stimme immer höher wird. „Nicht sehen! Da, da, da!“ Hektisch zeigt er mit dem Finger zu einer Stelle am Rand der Wiese. Plötzlich duckt er sich und sein Gesicht bekommt einen lauernden Ausdruck. Die Augen verengen sich zu Schlitzen und er zieht die Lippen von den Zähnen. „Hommes mal, mal!“ knurrt er.
„Da waren böse Männer?“ frage ich nach.
Jean nickt. „Frau peur!“ Gequält stößt er diese Worte hervor und verzieht dabei schmerzerfüllt das Gesicht „Peur hommes!“
„Die Frau hatte Angst vor den bösen Männern und ist weggelaufen?“ fragt Diego plötzlich hinter mir. Jean sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Statt einer Antwort stürmt er zu der Stelle, auf die er eben gedeutet hat, bleibt dort stehen und zeigt mit wilden Gesten in die Schlucht, die hier an die Lichtung stößt. „Da, da, da, weg!“ stößt er in höchster Verzweiflung aus, „weg!“
„Die Frau ist in die Schlucht gestürzt?“ Ich schlage mir die Hand vor den Mund und schaue Jean mit kaltem Entsetzen an. Der schüttelt den Kopf und wiederholt „Weg! Weg!“
„Du hast sie nicht mehr gesehen?“ vermutet Diego.
Jean nickt. Dann duckt er sich plötzlich wieder und fletscht die Zähne. „Hommes mal“, knurrt er, steht wieder auf und hebt mit großen Augen die Schultern „Riez, riez!“
„Die bösen Männer haben gelacht?“ Diego und ich sehen uns an. Zeit, diese Sache zu verstehen, haben wir allerdings nicht, denn Jean fährt schon fort. „Hommes“ knurrt er „Tauri! Big Tauri! Weg!“ Er zuckt mit den Schultern und schaut uns erwartungsvoll an. Er ist wohl mit seiner Geschichte fertig.
„Hä? Tauri? Stier? Was soll das denn jetzt? Die waren mit einem großen Stier unterwegs?“ Ich schaue Diego an, der meinem Blick allerdings ausweicht.
„Warte mal Jean, wo war denn nun die alte Frau?“
„Ah“, Jean klatscht sich vor die Stirn und lacht. Wieder deutet er in die Schlucht.
„Frau, Madame, compris?“
„Ja.“
„Falls down ici, Compris?“
„Ja. Die Frau ist hier runtergefallen.“
„Non, non! Je vous show you!“ Jean schüttelt den Kopf und geht ein paar Schritte weit von der Abbruchkante zurück.
Ich wende mich Diego zu. „Er will uns was zeigen? Was denn wohl?“
„Keine Ahnung, aber lass ihn mal.“
Jean stoppt ungefähr zehn Meter von der Schlucht entfernt und schaut uns aufmerksam an. „Je, Madame“, sagt er und deutet dabei auf seine Brust.
„Ja, du bist die Frau“, bestätige ich.
Er deutet auf zwei Stellen, nicht weit von ihm. „Deux hommes!“
„Da standen die zwei Männer, ist klar.“
„Tauri!“ Er zeigt auf eine Stelle, die noch weiter von der Schlucht entfernt ist, etwa zwanzig Meter hinter der Stelle, wo die Männer gestanden haben.
„Tauri? Was meint er bloß damit?“, frage ich Diego.
Noch bevor er antworten kann, rennt Jean plötzlich los und stürmt in vollem Lauf auf den Rand der Schlucht zu. Seine Beine stampfen in schnellem Takt auf den Boden und seine Arme rudern wild in der Luft herum.
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