Und im selben Moment erlosch die Vorfreude, die er eben noch verspürt hatte.
Diese Stadt war ein Fremdkörper. Sie gehörte nicht an diesen Ort. Irgendeine seltsame Macht musste die himmelhohen Häuser hierher gesetzt haben, mitten in die Landschaft, ohne sie mit der Umgebung zu verbinden.
Auch der viele Meilen breite Gürtel von Gewächshäusern, der die Stadt umgab, schuf diese Verbindung nicht, wucherte stattdessen in die Ebene hinein, wie ein Krebsgeschwür, mit den Dächern aus Glas, in denen sich das Sonnenlicht millionenfach spiegelte.
…Hier wurden also Gemüse und Obst für die Bewohner der Stadt angebaut.
Fasziniert und abgestoßen zugleich, starrte Nantai auf die gleißenden Flächen, die rasch näher kamen. Schon bald war der Zug zu beiden Seiten umsäumt von Wänden aus Glas, hinter denen man das Leben dennoch nur erahnte.
Dieser Anblick veränderte sich nicht, bis die Gärten schließlich Industrieanlagen wichen. Glas wurde zu Beton, und die Gärten von gewaltigen Maschinen aus Stahl verdrängt.
Auch dieser Anblick änderte sich lange Zeit nicht mehr. Doch als Nantai sich eben gelangweilt in den Sitz zurücklehnen wollte, senkten sich die Schienen in den Tunnel hinab, der nun viele Meilen lang unter der Stadt verlief, und erst im Zentrum wieder an die Oberfläche führte.
Und im selben Augenblick, in dem ihn die Dunkelheit verschlang, fühlte Nantai auch die Beklemmungen wieder, die ihn in den Wäldern quälten, sobald er sich ins Innere der Erde begab.
Nur, dass er dieses Mal nicht darauf vorbereitet war.
Niemand hatte je von diesem Tunnel gesprochen - und seine Panik wuchs mit jeder Minute mehr. All seine Instinkte drängten ihn, dem tödlichen Dunkel zu fliehen. Aber er konnte nicht fliehen. War hilflos gefangen in diesem Käfig aus Stahl, der ihn tief unter der Erde festhielt.
Warum fand er nur kein Mittel gegen die Angst?
Er kämpfte noch um Beherrschung, als zwei Uniformierte das Abteil betraten, und in barschem Ton nach den Einreisepapieren verlangten. Der Freund hatte die Formulare griffbereit, und zog sie rasch aus der Tasche, während Nantai hektisch in seinem Rucksack zu wühlen begann - und dabei sehr dankbar bemerkte, dass ihn dies von der Angst ablenkte.
Aus diesem Grund störte ihn das unhöfliche Verhalten der beiden Männer zunächst nicht. Auch nicht ihre finsteren Mienen, die sich überrascht aufhellten, als sie seinen Papieren den Grund seines Aufenthalts in Megalaia entnahmen.
„Sie wollen studieren?“ bemerkte der eine. Spöttisch, und mit hörbarer Herablassung. „Das ist ja hochinteressant. Dann sollten wir Ihnen wohl viel Erfolg für Ihr Vorhaben wünschen.“
Aber Tonfall und Grinsen des Mannes zeigten nur allzu deutlich, was er wirklich von Nantais Erfolgsaussichten hielt. Die wenigen Eingeborenen Megalaias, die er kannte, fristeten ihr mühseliges Dasein als Straßenhändler oder Bauarbeiter, ein erfolgreich studierender Waldbewohner ging weit über sein Vorstellungsvermögen hinaus. Sichtlich erheitert machten sich die beiden Kontrolleure nun einen Spaß daraus, Nantai mit dummen Fragen zu provozieren…
Um ihn bloßzustellen, wie er ahnte.
Um seine Studierfähigkeit zu überprüfen, behaupteten sie. Doch das grausame Spiel endete abrupt, als die Tür ein weiteres Mal aufgerissen wurde.
Ein dritter Uniformierter trat ein und musterte die Kollegen mit finsterem Blick. „Gibt es ein Problem? Soll ich die Angelegenheit übernehmen?“
„Nein, nein“ versicherten sie eifrig. „Alles in bester Ordnung. Wir sind eben fertig geworden.“ Und nur Sekunden später waren die Pässe der beiden Freunde mit den nötigen Stempeln versehen.
„Schade, ich hätte mich gerne noch ein wenig mit Ihnen unterhalten!“ Einer der Männer gab Nantai grinsend die Papiere zurück. „Aber vielleicht begegnen wir uns ja eines Tages wieder. Schließlich seid ihr Waldbewohner recht häufig zu Gast in unseren Arrestzellen!“
Mit zusammengepressten Lippen nahm Nantai die Dokumente in Empfang. Jetzt wusste er, wovor sein Begleiter ihn kurz nach der Abfahrt gewarnt hatte. „Du solltest wissen, dass einige der Stadtbewohner auf uns herabsehen“ hatte er gesagt, dann aber beruhigend hinzugefügt: „Den meisten Menschen dort sind wir allerdings mehr oder weniger gleichgültig. Sie sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich um uns zu kümmern.“
Und nur wenig später geriet der Vorfall wieder in Vergessenheit.
Denn jetzt fuhr der Zug wieder nach oben, wurde zudem stetig langsamer. Und dann tauchten sie unvermittelt ins Tageslicht.
Sie waren im Zentralbahnhof Megalaias angekommen.
Endlich am Ziel.
Nantai wartete nicht auf den Freund.
Zog den Rucksack aus dem Gepäckfach und hastete zum Ausgang.
Riss die Tür eilig auf, sprang auf den Bahnsteig - nur von einem einzigen Gedanken beseelt. Raus hier! Und blieb dort wie angewurzelt stehen Er hatte mit vielen über Megalaia gesprochen, hatte jedes Buch, jeden Artikel gelesen, den er über die Stadt gefunden hatte. Er hatte geglaubt, er sei gut auf sie vorbereitet. Doch nun drohte ihn der erste Eindruck von Megalaia zu erschlagen. Wohin er auch blickte – überall waren Menschen. Menschen, die sich wie ein riesiger, ein alles verschlingender Organismus durch die gewaltige Bahnhofshalle bewegten, eilig aneinander vorüber hastend, die Gesichter zu einer einzigen grauen Masse verschwommen. Das Gewirr ihrer Stimmen, das Kreischen der Zugbremsen, und die Ansagen aus den Lautsprechern vereinten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm, den seine geschärften Sinne kaum ertrugen. Zudem war es in dem von der Sonne aufgeheizten Gebäude so stickig und heiß, dass er glaubte, nicht mehr atmen zu können. Wie ein Fisch, den ein unglückseliges Schicksal an Land gespült hat, stand er auf dem Bahnsteig und rang panisch nach Luft - reagierte nicht einmal, als der Freund ihn am Arm packte und durch die Menschenmenge nach draußen zog. Vor dem Bahnhof war es nur wenig ruhiger. Aber eine leichte Brise machte das Atmen leichter. Dankbar blickte er zu dem Freund, der ihm verständnisvoll zulächelte. „Du brauchst dich nicht zu schämen, Nantai!“ Das Lächeln verschwand. „Als ich vor Jahren hier ankam, wäre ich am liebsten sofort wieder in den Zug gestiegen, und in die Wälder zurückgefahren. Doch irgendwann gewöhnte ich mich an das Leben in der Stadt, und auch du wirst dich daran gewöhnen, am Ende vielleicht sogar recht gut damit zurechtkommen.“ Er seufzte. „Ich bin allerdings froh, dass ich Megalaia in einer Woche wieder verlasse!“ Und plötzlich graute Nantai bei dem Gedanken, allein in dieser Stadt zu bleiben. In den folgenden Tagen fand er keine Gelegenheit mehr zum Nachdenken, weil die Suche nach einer Wohnung viel Zeit in Anspruch nahm. Hinzu kamen ungezählte Stunden, die er bei Behörden zubrachte, um all die Formalitäten zu erledigen, die sein Aufenthalt mit sich brachte. Schließlich - drei Tage nach der Ankunft - fand er eine Bleibe in einem heruntergekommenen Mietsblock am Rande der Innenstadt - nicht schön, aber günstig, und nahe der Hochschule. Ein einfaches, möbliertes Apartment mit einem winzigen Bad und Kochnische, Bett und einem kleinen Schrank, der für seine wenigen Besitztümer jedoch vollkommen genügte. Die Behörden würden die Miete übernehmen, ebenso die Kosten für den Vorbereitungskurs, den er vor dem Studium absolvieren musste, und die Gebühren fürs Studium, sofern er die Zulassung erhielt. Darüber hinaus erhielt er für die gesamte Dauer seiner Ausbildung ein Taschengeld, mit dem er seinen Lebensunterhalt so eben bestreiten konnte. Damit waren die wichtigsten Dinge geregelt, als der Freund ihn nach einer Woche wieder verließ. Zum ersten Mal in seinem Leben war Nantai jetzt vollkommen auf sich allein gestellt. Fern der Heimat. In einer gänzlich fremden Welt.
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