Doch wann immer er über diese Fragen nachdenken wollte, klingelte es, und die Freunde standen vor der Tür, um ihn abzuholen. Und schon fand er sich an einem anderen Ort wieder, lachend, mit einem Mädchen im Arm, von Feiernden umringt.
Und bei der Heimkehr war er entweder viel zu müde, um sich den Kopf zu zerbrechen - oder nicht allein, und hatte Besseres zu tun.
Auf diese Weise verrannen die Tage...wurden aus Tagen schließlich Wochen…
Und lange Zeit nahm er nicht wahr, wie sehr ihm dieses Leben schadete. Spürte lange Zeit die Leere nicht, die ihn mit jedem Tag mehr erfüllte, und nicht den schaler werdenden Geschmack, den diese Nächte in ihm hinterließen. Verdrängte lange Zeit, dass er nur noch trank, um mit den Freunden mitzuhalten, und dass die Zärtlichkeiten der Frauen seinen Körper zwar erreichten - seine Seele jedoch nicht.
Doch mit jedem Tag schlief er schlechter. Träumte in jeder Nacht heftiger - verwirrende, verstörende Träume. Träume, die ihm eine Botschaft sandten, die er nicht verstand.
Nur eines begriff er am Ende. Dass er aufhören musste mit dem Leben, das nicht seines war.
„Was ist los mit dir, Nantai?“
Tom wunderte sich, weil der Freund zum wiederholten Male nicht an einer Tour durch Megalaias Nachtleben teilnehmen wollte. „Du warst doch immer der letzte, der zu Bett ging - und oft genug nicht alleine“ fügte er grinsend hinzu. „Wird dieses Leben etwa zu anstrengend für dich?“
Die Antwort fiel Nantai sichtlich schwer. Viel zu lange hatte er versucht, zu sein wie Tom und die anderen. Wie sollte er jetzt erklären, dass er sich selbst und auch ihnen dabei etwas vorgemacht hatte? Dass er - trotz allem - nicht war wie sie?
Gleich, was er ihnen sagte - sie würden ihn nicht verstehen.
Er würde sie verlieren.
„Ich fürchte, ihr müsst künftig ohne mich durch die Clubs ziehen“ erwiderte er traurig. „Mir ist klar geworden, dass ich so nicht weitermachen kann - sonst werde ich die Prüfungen nicht bestehen, mein Stipendium verlieren - und damit die Aufenthaltserlaubnis für Megalaia. Und dieses Risiko darf ich nicht eingehen!"
Tom war überrascht. Und sehr verletzt.
„Na schön“ erwiderte er verstimmt, „wenn deine Karriere dir plötzlich mehr bedeutet als deine Freunde, dann kann ich wohl nichts dagegen tun. Ich hoffe nur für dich, dass du diese Entscheidung nicht eines Tages bereust!“
Und ließ Nantai kopfschüttelnd stehen.
Einige Male fragte Tom noch. Trotzdem. Doch als er immer dieselbe Antwort erhielt, fragte er irgendwann nicht mehr.
Sie trafen einander noch hin und wieder, an der Hochschule, wenn Tom sich ausnahmsweise dorthin quälte, gingen dann gemeinsam essen, und unterhielten sich länger, wenn sie Zeit dazu fanden.
Doch ihr Verhältnis war kühler geworden, distanzierter. Ohne dass sie den ernsthaften Versuch unternahmen, daran etwas zu ändern.
Und nur wenige Wochen später kam Tom, um sich von Nantai zu verabschieden.
„Ich musste einsehen, dass Studieren nichts für mich ist…“ erklärte er mit einem schiefen Grinsen. „Jetzt hat mein Vater mir einen Ausbildungsplatz in seiner Firma besorgt… vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder.“
Doch beide wussten, dass sie sich nicht wieder sehen würden.
Und beide nahmen es gelassen zur Kenntnis.
Von nun an bemühte sich Nantai nicht mehr um Freundschaften.
Seine ganze Energie galt nun dem Studium... eben noch zur rechten Zeit!
Denn er hatte vieles versäumt.
Auch wenn er schon bald feststellen musste, dass sie nicht lehrten, was er sich erhofft hatte. Er hatte geglaubt, die Welt besser zu verstehen, wenn er sich für einen naturwissenschaftlichen Studiengang entschied. Hatte gehofft, auf diese Weise einen Zugang zu seiner Gabe finden.
Aber das Ziel des Studiums schien nicht darin zu bestehen, die Welt und ihre Wunder besser zu verstehen. Was sie lehrten, sollte in erster Linie den Zwecken der Menschen dienen.
Diese Art zu denken stellte sein Weltbild vollkommen auf den Kopf.
Wie alle Bewohner der Wälder hatte er gelernt, in Einklang mit der Natur zu leben, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen, und sie zu respektieren.
Wie alle Bewohner der Wälder betrachtete er sich als Teil eines großen Ganzen, und versuchte, seinen Platz darin zu finden.
Das gesamte Leben in den Wäldern folgte diesem Grundsatz.
Die Menschen in den Städten hingegen hatten diesen Respekt längst abgelegt.
Sie schienen nur noch an dem Nutzen interessiert, den sie aus ihrer Kenntnis über die Gesetze des Lebens zogen. Für sie war die Welt lediglich ein Experimentierfeld, das sie nach ihrem Willen zu formen gedachten.
Er brauchte lange, um sich an diese Weltsicht zu gewöhnen - akzeptieren konnte er sie nie. „Sie erzürnen die Geister mit ihrem Tun!“ dachte er voller Entsetzen. Und fragte sich, warum die Mächte der anderen Weltseite sie nicht dafür straften. Hatten die Geistwesen die Bewohner Megalaias etwa vergessen?
War dies der Grund, warum die Menschen der Stadt so vieles nicht wussten, das ihm selbst klar und einfach erschien? Brauchten sie deshalb Computerprogramme, um das Leben zu erklären?…Und es trotzdem nicht zu begreifen….
Dennoch versuchte er, ihre Lehren zu verstehen, verbrachte viele Nächte über seinen Büchern… und blieb. Obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielte, Megalaia zu verlassen.
Warum wollten sie das Leben in Formeln und Theorien fassen und berechnen, anstatt es zu erleben? Warum gingen sie nicht in die Wildnis, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich das Leben anfühlte? Warum genügte es ihnen, sich das Leben nur vorzustellen, theoretische Modelle dafür zu entwickeln, die Wirklichkeit am Computer zu simulieren? Warum vertrauten sie nicht auf das Jahrtausende alte Wissen der Ahnen und auf die Macht der Geistwesen?
In solchen Momenten fühlte er sich wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
Mit der Zeit jedoch wurden diese Momente weniger. Bis sie am Ende des zweiten Studienjahrs, mit dem Bestehen der Zwischenprüfung, schließlich ganz. verschwanden. Er hatte mehr erreicht als jeder Waldbewohner vor ihm - und sah dem zweiten Teil seines Studiums nun voller Hoffnung entgegen.
Denn er hatte einen Ort gefunden, der ihm die Kraft zum Bleiben verlieh.
Den Park von Megalaia.
Zum ersten Mal war er mit Tom und den anderen im Park gewesen, nur wenige Wochen nach Beginn des Studiums. Damals hatten sie sich an einem sonnig warmen Sonntag dort zum Picknick verabredet, mit einigen Mädchen, die sie tags zuvor in einem Club kennen gelernt hatten.
Damals hatte er seine Umgebung allerdings kaum wahrgenommen, hatte sich lediglich gewundert, dass inmitten des steinernen Häusermeers eine solch große Grünfläche erhalten geblieben war. Viel interessanter jedoch war das hübsche Mädchen gewesen, mit dem er heftig geflirtet, und das ihn später mit zu sich nach Hause genommen hatte.
Auch später war er immer wieder in den Park gegangen.
Manchmal alleine, manchmal mit einer der zahlreichen Eroberungen.
Doch damals war der Park nur ein weiteres Ausflugsziel gewesen, ein Ruhepol nach nächtlichen Ausschweifungen.
Bis er eines Tages erkannt hatte, dass er - trotz allem - ein Kind der Wälder geblieben war. Dass er seine Seele verlieren würde, wenn er dieses Leben nicht beendete. Und, dass er die Heimat vermisste.
…den Herbstwind, der wild durch die Bäume jagte, und ihnen das dürre Laub von den Ästen riss. Dessen Heulen und Brausen ihn so oft am Morgen geweckt, und am Abend in den Schlaf begleitet hatte.
Die Tage der Stille, wenn die Sonne den Wald in goldenes Licht tauchte, wenn ihre Wärme die Welt ein letztes Mal sanft umfing, ehe die kalte Jahreszeit begann.
Auch den Winter vermisste er.
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