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Die Kraft des Winters war gebrochen.
Die Sonne gewann jeden Tag mehr an Kraft und ließ die Schneemassen in den Bergen mit jedem Tag rascher schmelzen, sodass die Bäche im Tiefland über die Ufer traten.
Durch die Wärme hervorgelockt, streckten schon die ersten Frühlingsblumen die Köpfe aus dem Boden, zeigten sich zarte Knospen an den kahlen Zweigen der Bäume.
Auch die Tierwelt erwachte aus langem Schlaf. Die Vögel bauten so eifrig an ihren Nestern, als hätten sie Sorge, die Brutzeit zu verpassen, während das männliche Wild im Wald lautstark sein Revier markierte, und - viel dringender noch - nach der Partnerin rief, die half, ihre Art zu erhalten.
Wieder einmal hatte das Leben in den Wäldern dem langen Winter getrotzt.
Wieder einmal zeigte es im Frühling seine nach wie vor ungebrochene Kraft.
Und mit dem Frühling kam auch der Tag, an dem Nantai seine Heimat verließ.
Es war ein besonderes Ereignis, wenn einer der ihren eine solch weite Reise unternahm. Deshalb hatte sich am Morgen seiner Abreise die ganze Dorfgemeinschaft versammelt, um den beiden Reisenden Lebewohl zu sagen.
Denn Nantai reiste nicht alleine. Ein älterer Freund, der für kurze Zeit in Megalaia gelebt hatte, wollte ihm in den ersten Tagen dort zur Seite stehen.
„Mögen die Geistwesen ihre schützende Hand über dich halten, mein Sohn.“
In Achaks Miene lag eine Mischung aus Stolz und Bangen, als er Nantai zum Abschied umarmte. Der Schamane ahnte, welche Herausforderungen auf seinen Sohn warteten. Nicht ohne Grund war noch keiner von ihnen lange in der Stadt geblieben. Jeder wusste, dass ein Waldbewohner seine Seele verlor, wenn er Megalaia nicht zur rechten Zeit den Rücken kehrte. …
Und niemand konnte sagen, wie lange Nantai dort bleiben musste …ob die Geistwesen ihm die Rückkehr erlaubten, ehe seine Seele in Gefahr geriet.
Im Gegensatz zu Pohawe gelang es ihm jedoch, die eigene Sorge nicht zu zeigen. Sie stand neben ihm und wartete leise schluchzend, bis er Nantai freigab, um den Sohn endlich selbst an sich zu drücken.
„Es tut mir Leid, Nantai“ flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht vor dir zu weinen!“ Sie zog ihn mit all ihrer Kraft an sich. „Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Bitte komm gesund wieder zurück!“
Nantai strich ihr zärtlich übers Gesicht.
„Es ist schön zu wissen, dass deine Gedanken immer bei mir sind, Mutter. Gleich wo ich bin, und was ich tue.“
Aber noch fühlte er zur eigenen Verblüffung keinen Abschiedsschmerz. Trotz der Tränen der Mutter nicht.
Erst als die beiden Brüder sich an ihn klammerten und ihn nicht mehr loslassen wollten, musste er plötzlich gegen einen Kloß im Hals ankämpfen. „Ihr müsst mich gehen lassen, sonst verpasse ich noch den Zug in Threetrees“ sagte er und versuchte vorsichtig, sich aus ihrer Umarmung zu befreien. „Ich verspreche, dass ich euch bei meiner Rückkehr etwas mitbringe!“
Damit überzeugte er die beiden, ihn loszulassen, sodass auch die ältere Schwester die Gelegenheit erhielt, sich von ihm zu verabschieden.
„Pass auf dich auf, kleiner Bruder!“ Sie lächelte, wohl wissend, wie sehr er diese Anrede hasste. Und nur dieses eine Mal wehrte er sich nicht dagegen.
„Das muss ich wohl tun, wenn du nicht bei mir bist und auf mich achtest!“ erwiderte er und bemerkte erleichtert, dass er seine Gefühle wieder im Griff hatte.
Sein Abschied von den übrigen Dorfbewohnern verlief hingegen rasch und ohne große Worte. Er hob die Hand zu einem letzten Gruß, wandte sich um - und betrat den Pfad, der nach Threetrees führte.
Die ersten Schritte fielen ihm unerwartet schwer. Fast wie damals, in der Zeit, in der er sich so ungern auf den Weg in die Schule gemacht hatte.
Doch mit jedem weiteren Schritt wuchs die Anspannung, wichen die Bedenken der Vorfreude auf die bevorstehende Herausforderung.
Nur einem Tag Aufenthalt in Threetrees, so hoffte er, dann würde er die Einreisepapiere für Megalaia in den Händen halten. Nur ein Tag noch, dann wartete die erste Zugfahrt seines Lebens auf ihn!
Nur ein Tag noch…
Doch er hatte die Gründlichkeit der Behörden NanGaias unterschätzt.
Die Leiterin der winzigen Verwaltungsstelle neben dem Bahnhof zweifelte an den mitgebrachten Zeugnissen. Sie müsse diese überprüfen, ehe sie ihm die Erlaubnis zur Einreise erteilen könne, erklärte sie.
Mit der Folge, dass er und sein Begleiter sich drei endlose Tage die Zeit mit Streifzügen durch die Umgebung vertreiben mussten, drei endlos lange Nächte in der einzig verfügbaren Unterkunft in Threetrees, der Mission, zubrachten.
Dann war es endlich soweit.
Die ersehnten Einreisepapiere fest in der Hand haltend, stand er neben dem Freund am Bahnsteig und sah dem einfahrenden Zug voller Ungeduld entgegen.
Das schrille Quietschen der Bremsen ließ ihn für Sekundenbruchteile erstarren. Aber dann warf er den Rucksack über die Schulter, stieg rasch ein - und blieb noch in der Tür stehen, erschrocken über die Enge und Düsternis im Innern des Zuges.
„Geh weiter!“ Der Freund schob ihn sanft zu einem freien Abteil. Dort hatten sie sich kaum gesetzt, als der Zug mit einem kräftigen Ruck losfuhr.
Und im selben Moment war alles vergessen.
Der zähe Kampf um die Einreisepapiere. Die langen Stunden des Wartens in Threetrees. Die Enge und Düsternis im Zug.
Wie gebannt starrte Nantai aus dem Fenster, konnte den Blick nicht mehr von der Landschaft lösen, die immer rascher vorüber zog. Zum ersten Mal wurde ihm jetzt bewusst, wie groß NanGaia war – und wie klein die Welt, in der er bisher gelebt hatte.
Irgendwann verschwanden die letzten Ausläufer der Wälder hinter dem Horizont, und vor ihnen erstreckte sich nun, soweit das Auge reichte, ein wogendes grünes Meer, in das der Wind sanfte Wellen malte. Nur wenn der Zug sich einer der wenigen Siedlungen näherte, wich das Grün für längere Zeit dem dunklen Braun frisch eingesäter Felder, säumten erblühende Obstplantagen die Strecke, ragten rote Dächer daraus empor - kleine Inseln, auf denen die wenigen Bewohner der Ebene lebten, die dem Ruf Megalaias noch widerstanden. Doch so gering ihre Zahl auch war, so groß war ihre Bedeutung. Denn sie erzeugten, was die Menschen der Stadt zum Leben brauchten.
Irgendwann hatte sich Nantai an den immer gleichen Bildern satt gesehen. Vom gleichmäßigen Rattern der Räder schläfrig geworden, lehnte er sich gähnend zurück, und schloss die Augen. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. Ohne Sorge, etwas zu verpassen.
Bis zur Ankunft in Megalaia würde sich die Landschaft kaum ändern, wie er wusste. Ihm blieb noch genügend Zeit, sie zu betrachten.
Am späten Nachmittag erreichten sie den ersten Zwischenhalt – Bluewater – wo sie den Zug wechseln mussten, und die willkommene Unterbrechung für einen Spaziergang nutzten, ehe die Fahrt in der Abenddämmerung weiterging.
Die erste Nacht in einem Zug verbrachte Nantai in einem seltsamen Dämmerzustand. Trotz der wachsenden Trägheit seines Körpers war sein Geist erstaunlich wach und fand lange nicht zur Ruhe. Erst gegen Morgen siegte die Müdigkeit, und er schlief, bis der Freund ihn weckte.
Sie hatten den zweiten Zwischenhalt erreicht, das Örtchen Smalltown, wo der nächste Zugwechsel erfolgte.
Der letzte Teil der Reise begann.
Endlich!
Es war fast Mittag, als am fernen Horizont die Dunstglocke auftauchte, die wie immer über Megalaia hing - der erste Eindruck, den man von der Hauptstadt NanGaias gewann, gleich, aus welcher Richtung man sich näherte.
Von nun an wich Nantais Blick nicht mehr vom Himmelsrand, wo sich die eindrucksvolle Silhouette Megalaias mit jeder Meile klarer abzeichnete. Bis er die riesigen Wolkenkratzer endlich deutlich erkannte - dicken Fingern gleich, die mahnend in den Himmel zeigten.
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