Ganz anders wollten sie leben, „einen Unterschied“ wollten sie dereinst gemacht haben, als Zweiergespann etwas zu einer besseren Welt beitragen - Ehrensache! Sie erwärmten sich an der Idee, ihre Gegensätzlichkeiten zu einer unschlagbaren Einheit zu ergänzen. Sie fühlte sich mitgerissen von seiner mutigen, lachenden, raumgreifend-zupackenden Begeisterungsfähigkeit, ihn zog wohl der Kontrast ihrer eher introvertierten, stilleren Art an, hinter der sich aber eine nicht geringere Liebe zur Welt und zum Menschlichen verbarg. Er engagierte sich in verschiedenen politischen Studentengruppen, aktiv, extrovertiert, voller Energie, während sie sich bei näherem Hinsehen von der Komplexität, der Uferlosigkeit des Bildes, das die Welt ihr bot, in eine unbestimmte Expansivität und Vagheit abgeschreckt fühlte, nicht so ganz genau wusste, was und wie sie wollte - vielleicht schreiben, malen, Dinge schaffen, die auf ihre Art „irgendwie etwas bewirken“ sollten. Er hielt ihr Vorträge über die Ziele seiner Organisationen, nahm sie mit in Versammlungen, überredete sie, selbst auch einzutreten. Zwar überzeugten sie die Argumentationen und Analysen zum größten Teil durchaus, aber wirklich wohlfühlen konnte sie sich dort trotzdem nie. Das war nicht ihre Welt und nicht ihre Art, sie konnte das nicht: diskutieren, Reden halten und recht behalten wollen, Aktionen planen und bei alledem ständig vollkommen naiv davon überzeugt sein, die Welt besser verstanden zu haben als ihre Nachbarn.
Max nahm ihre Zurückhaltung kaum wahr, und ihm fiel auch nicht auf, dass, während sie sich auf Aktivitäten in den Organisationen nur halbherzig einließ, ebenso ihre eigenen Pläne - so vage die auch gewesen sein mochten - sang- und klanglos zu Boden sanken und versandeten. In der Reibung mit den selbstbewussten Aktivisten und Welterklärern war ihr jegliches Zutrauen in ihre möglichen eigenen Wege abhandengekommen, ja, etwas wie Scham hatte sie zu empfinden begonnen und die Unmöglichkeit, sich selbst ernst und wichtig genug zu nehmen für irgendwelche nach außen gerichteten Bemühungen. So hatte sie, was ihr ureigen war, in sich verschlossen und ihm damit keine Chance gelassen, über die Unbestimmtheit ihrer jungen Begeisterungen hinauszugelangen und in der Erprobung am Konkreten ihr Leben zu bestimmen.
Ein Resultat ihrer wenig überzeugten Zugehörigkeit zu Max‘ Gruppen war immerhin, dass sie über eine zunächst ehrenamtliche Mitarbeit im damals noch so genannten Dritte-Welt-Laden mit der Zeit eine bezahlte Teilzeitstelle dort gefunden hatte, die sie auf bescheidenem Niveau unabhängig machte, und von der sie auch heute noch den größten Teil ihres Unterhalts bestritt.
Max hingegen hatte da schon längst eine überraschende Kehrtwende vollzogen. Im sechsten oder siebten Semester wollte er ein Praktikum machen, um „mal rauszukommen aus dem Elfenbeinturm der Uni und in die Wirklichkeit der Arbeitswelt hineinzuschnuppern. Und man muss ja irgendwann auch schauen, wie man hinterher sein Geld verdienen könnte“, und er fand ein Volontariat bei einem schon damals sehr rührigen und erfolgreichen „Kulturmagazin“. Die ganzen langen Semesterferien über arbeitete er dort, half in den verschiedenen Abteilungen mit, und gegen das Ende der Zeit durfte er sogar eigene Artikel verfassen. Man zollte ihm Anerkennung, seine „Schreibe“ gefiel, und man bot ihm an, richtig bei ihnen einzusteigen. Das tat er zunächst als freier Mitarbeiter, während er sein Studium zum Abschluss brachte. Als er seine Magister-Urkunde in Germanistik, Politik und Geschichte in der Schublade hatte, bekam er sofort einen festen Vertrag. Er hatte sich in den paar Jahren seiner freien Mitarbeit so etabliert in dem Unternehmen, hatte die Chefs mit seiner Persönlichkeit und vielseitigen Talenten so überzeugt, dass es überhaupt keine Frage war, ob er würde bleiben können.
Mit den Jahren veränderte sich der Charakter der Firma: man beschränkte sich nicht mehr darauf, von Ereignissen aus Kultur und Unterhaltung zu berichten, sondern begann, solche auch selbst zu organisieren - und dann darüber zu berichten -, und wurde so allmählich zu einem komplexen Unternehmen mit verschiedenen Sparten und Tätigkeitsfeldern: die Herausgabe einer kleinen Bandbreite von Publikationen, die den unterschiedlichen Ansprüchen verschiedener Leserschichten entgegenkommen sollten, Kultur- und „Event“-Management, Künstlervermittlung, bis hin zu einer Werbeagentur - dies alles war nach und nach unter einem Dach entstanden und zusammengewachsen; kurz, man hatte die Hand möglichst überall dort im Spiel, wo es galt, Kultur im weitesten Sinne zu vermarkten.
Mit der Expansion der Firma wuchsen auch Max immer neue Aufgaben zu. Artikel schrieb er eigentlich kaum noch, sondern er war nach und nach viel mehr mit organisatorischen, mit Management- und Führungsaufgaben betraut. Er fand dies spannend, es machte ihm Spaß zu merken, dass er sich bewährte und immer neue Herausforderungen meisterte. Auch das Gefühl, in anderem Sinne zu reüssieren, gesellschaftlich dazuzugehören, machte ihn glücklich, und er freute sich wie ein Kind an seinem vollen Terminkalender, an den Empfängen, Einladungen, Vernissagen und was nicht sonst noch alles zu seinen Verpflichtungen gehörte. Natürlich verdiente er gut und nahm sich eine schöne große Wohnung, die er so geschmackvoll modern einrichtete, dass er mit seinesgleichen mithalten konnte.
Und vergessen waren Nicaragua, der Imperialismus und die gerechte Verteilung der Wirtschaftsgüter...
Sie beobachtete seine Karriere und die Veränderungen, die sie in ihm zeitigte, mit einer leicht ironischen Verschmitztheit, und ein sanfter Spott stand in ihren Augen, wenn sie Zeugin wurde, wie er sich mal wieder recht wichtig vorkam. Jedoch sah sie ihm seine Inkonsequenzen nach und seinen Abfall vom einst selbstgewählten Glauben um seiner jungenhaften Freude am Erfolg willen, die sie liebte und die sie ein wenig rührte. Trotz aller seiner Überlegenheiten und ihrer Schwächen kam er ihr in solchen Momenten heimlich viel weniger erwachsen vor als sie selbst.
Am Rande hatte auch sie ein wenig Anteil an seinem Lebensstandard. Da war natürlich die Wohnung, in der sie sich viel öfter zu zweit aufhielten als in ihrer kleinen Altbaudachwohnung, in die sie noch gegen Ende ihres Studiums gezogen war, und die sie um kaum etwas in der Welt aufgegeben hätte. Auch begleitete sie ihn, sooft er sie dazu überreden konnte, zu seinen gesellschaftlichen Anlässen - fühlte sich dabei wie „die Kröte aus dem anderen Brunnen“, langweilte sich schrecklich, hoffte, dass niemand das merken würde, und bemühte sich nach Kräften, bei Smalltalk und Fachgesimpel nicht allzu auffällig zu versagen; bewunderte Max für seine souveräne Art, sich in diesem Milieu zu bewegen, und war aber heilfroh, wenn sie das alles hinter sich lassen und zusammen nachhause gehen durften. Und, wenn sie es sich selbst ganz ehrlich eingestand, war sie manchmal erst dann richtig erleichtert, wenn sie wieder allein zurück in ihrer Wohnung war und ein wenig Erholung von Max und seiner Welt bekam.
Sie ihrerseits fristete ihr Dasein nach wie vor aus ihrer Arbeit im Weltladen. Ergänzt wurde ihr bescheidenes Gehalt aus einer Quelle, zu der sie damals einigermaßen unverhofft und zu ihrer nach wie vor anhaltenden eigenen Verwunderung gekommen war: Während ihres Studiums der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte hatte sie nebenher praktische Kurse in Zeichnen und Malen besucht. Schon als Kind war das eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen, und sie hatte sich dabei nicht ganz ungeschickt angestellt. Nun wollte sie dieses kleine Talent ein wenig kultivieren und Einblicke gewinnen in die Tricks und Kniffe der Kunst. Irgendwann einmal sprach eine Freundin sie an: die hatte eine Idee zu einem Kinderbuch und wollte, dass sie die Illustrationen dazu machte! Zunächst traute sie sich so etwas überhaupt nicht zu - „ich stümpere doch nur so ein bisschen herum!“ Das solle sie ruhig mal ihre Sorge sein lassen, meinte Sabine, die sie schließlich dazu überreden konnte, es wenigstens zu versuchen, und am Ende entpuppte sich die Geschichte zu einem richtigen Glückstreffer: Nicht nur, dass es einen Heidenspaß machte, das Buch mit der Freundin zusammen zu konzipieren, ihre Phantasie und ihr Geschick auf ein Ziel gerichtet einzusetzen und schließlich ein rundes Ganzes als Ergebnis in der Hand zu halten; Sabine schaffte es auch, das Buch bei einem guten Verlag zu platzieren und erwies sich auch noch als geschickt im Aushandeln der Konditionen für sie beide. Das kleine Werk kam gut an, und sie machten noch eine Fortsetzung dazu, die sich ebenfalls gut verkaufte. Diese Aktion lag nun schon Jahre zurück. Die Freundinnen hatten sich inzwischen längst so ziemlich aus den Augen verloren, Sabine war zunächst in eine andere Stadt, dann ins Ausland gezogen, hin und wieder ging einmal ein Lebenszeichen in die eine oder andere Richtung, oder sie hörte durch gemeinsame Bekannte von ihr. Was aber blieb, war eine halbjährlich eintreffende Abrechnung des Verlags und eine hochwillkommene Einzahlung auf ihr Konto.
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