»Wer weiß, wie lange noch?!«
Krachend fällt die Zellentür zu. Das Knirschen des Schlüssels ist unüberhörbar. Christian Koch war wieder allein. Es wurde Zeit. So langsam musste die Organisation doch von seinem Aufenthaltsort Kenntnis haben! Wann endlich würde jemand handeln? Dass die Graue Eminenz das Zeitliche gesegnet hatte und die Villa erstürmt wurde, entzog sich seiner Kenntnis. Man würde ihn hier rausholen, es war nur eine Frage der Zeit. Die Organisation funktionierte und sie ließ nie einen Kameraden in Not fallen. Das war damals so und so blieb es bis heute, eben nur eine Frage der Zeit.
Damals! Er erinnert sich noch genau, viel zu einschneidend war das Erlebte, um es vergessen zu können. Gegen Mitternacht war er losmarschiert. Vor ihm lagen etwa 1000 Kilometer Fußweg, Kälte und Angst, die ihn allerdings auch immer wieder zur Eile antrieben. Nach zwei Tagen erreichte er Salzburg. Von hier aus waren es nur 15 Kilometer bis Berchtesgaden. Sollte er es wagen? Der Obersalzberg zog ihn magisch an. Dennoch erreicht er seinen »Abstecher« nicht.
»Just stopping! Hands hight!« erschallt es in seinem Rücken. Marktschellenberg! Keine 5 Kilometer vom Ziel entfernt! Und nun ausgerechnet der Ami!
Langsam hebt er die Hände und erwidert in fließendem Englisch: »Ich bin argentinischer Staatsbürger im Auftrag des Internationalen Roten Kreuzes. Darf ich in meine Brusttasche fassen und den Ausweis rausholen?«
Die beiden GIs wechseln ein paar Blicke. Irgendetwas stimmt mit diesem Typen nicht. »Sie lassen ihre Hände schön oben! Ich werde ihr Dokument aus der Tasche holen!« Während der eine, in sicherem Abstand, seine Maschinenpistole auf Koch richtet, tastet der andere vorsichtig seine Taschen ab, zieht den Schein heraus, wirft einen kurzen Blick darauf und nickt dem anderen zu. Der Sergeant ist immer noch nicht überzeugt.
»Waren sie SS-Mitglied?«
»Nein! Wie sie dem Papier entnehmen, ja wohl nicht!«
»Krempeln sie bitte ihre Jacke hoch und machen den rechten Arm frei!«
Christian ahnt, worauf das hinauslaufen soll. Jedes Mitglied der SS hatte seine Blutgruppe eintätowiert. Dies galt zum einen als Zeichen des Zusammenhalts, aber noch mehr, um bei Transfusionen das richtige Blut und unter keinen Umständen einen noch so kleinen Tropfen von fremden Rassen zu erhalten. Diese Tätowierung war Pflicht und Stolz zugleich! Christian war seinerzeit maßlos enttäuscht, dass Stubbe und er, aus Gründen der Geheimhaltung auf dieses Privileg verzichten mussten. Jetzt rettet ihm dieser Umstand wohl den Hals. Erleichtert tut er, was ihm geheißen.
»Okay! Sie können die Arme jetzt wieder runternehmen! Trotzdem dürfen wir sie nicht weiterlassen. Dieses Gebiet ist zur Sperrzone erklärt! Gehen sie wieder zurück!«
Das lässt sich Christian nicht zweimal sagen. Mit einem kurzen Kopfnicken und gemurmelten »Okay« läuft er wieder in Richtung Salzburg. Schön langsam, nicht noch im letzten Moment durch Hektik auffallen!
Die beiden Soldaten sehen ihm nach. »Ich weiß nicht, aber irgendetwas stimmt mit dem Kerl nicht. Ich hab so ein beschissenes Gefühl!« Zu diesem Zeitpunkt kennen die beiden den Begriff »Klosterroute«, die der amerikanische Geheimdienst später in »Rattenlinie« umtauft, noch nicht und später werden sie sich an Christian Koch auch nicht mehr erinnern. »Scheiß auf dein Gefühl. Lass ihn ziehen, wir sollten jetzt erstmal eine rauchen!«
In sicherer Entfernung schnauft Christian, sein Herz pocht, schlimmer als bei der Ausbildung. Haarscharf am Abgrund vorbei! Bloß schnell alles hinter sich lassend, macht er sich auf den Weg. Seiner ganz persönlichen Rattenlinie folgend, schläft er in Wäldern und Scheunen, überquert den Brenner und lässt Bologna hinter sich. Schließlich erreicht er, fast schon am Ende seiner Kräfte, die italienische Hauptstadt. Die Via della Pace ist bekannt in Rom! Rasch hatte er sich durchgefragt, mitleidige Blicke empfangen und gespürt, dass sein äußeres Erscheinungsbild irgendwie nicht stimmte. Endlich stand er dem Vorsteher der Kirche, dem Bischof Alois Hudal, einem gebürtigen Österreicher, gegenüber. Ausgerechnet ein Pfaffe sollte jetzt sein weiteres Geschick bestimmen!
Dass dieser Pfaffe Träger des Goldenen Ehrenabzeichens der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war und bereits 1936 ein Buch über »Die Grundlagen des Nationalsozialismus« geschrieben hatte, welches er dem Führer mit der persönlichen Widmung »Dem Siegfried deutscher Größe« überreichte, war Koch nicht bekannt. Auch Hudals Einstellung, sein gesamtes Werk den Nationalsozialisten zu widmen, um so das rasende Verlangen der alliierten Sieger nach Rache und Vergeltung zu vereiteln, kannte er nicht. Im Moment stand Christian nur mit zitternden Knien vor der kirchlichen Obrigkeit.
»Tritt ein, mein Sohn! Hier in den Räumen bist du sicher. Wie war noch einmal dein Name?«
»Wallenberg oder Koch, ganz wie sie wollen, Hochwürden.«
Der Ehrwürdige musste lächeln, so kam ihm noch keiner. Er empfand von vornherein eine Art Sympathie für den Jungen, der anscheinend sehr naiv und gänzlich heruntergekommen war, jedenfalls was seine Erscheinung und seinen Körpergeruch betraf. Aber er musste auf Nummer sicher gehen, zu viel hing davon ab. »Können sie sich ausweisen?«
Christian reicht ihm den Papierschein. Der Bischof nickt zufrieden, dann zerreißt er das Papier genüsslich und weidet sich an den entsetzten Augen seines Gegenübers. »Alles in Ordnung. Sie waren mir angekündigt. Und das hier brauchen wir nicht mehr. Mit diesem Wisch könnten sie das Land nicht verlassen. Wir werden ihnen neue Papiere besorgen, wertvollere.« Hochwürden läutet eine kleine Klingel und ein Mönch erscheint. »Jetzt werden sie sich erstmal erholen! Bruder Fabrizio wird ihnen ihr Zimmer zeigen und ihnen etwas zu essen bringen. Machen sie sich frisch und genießen sie den Aufenthalt bei uns, allzu lange wird es nicht dauern, vielleicht zwei oder drei Tage, dann haben wir alles beisammen. Nur um eins bitte ich. Sie können sich hier im Haus frei bewegen. Wenn sie möchten, selbstverständlich auch an den Andachten teilnehmen, hilft der Seele, habe ich mir sagen lassen. Aber verlassen sie niemals das Haus, auch nicht kurzzeitig. Es wimmelt dort draußen nur so von Spitzeln. Jegliche Zuwiderhandlung würde dazu führen, dass sie keinen Schutz von uns mehr zu erwarten hätten. Was das für sie heißen würde, ist ja wohl klar?!«
»Ja, Hochwürden, ich werde mich selbstverständlich an die Regeln halten. Und danke für alles«
»Sie sind zu keinem Dank verpflichtet. Und jetzt gehen sie!«
Koch folgt Bruder Fabrizio und im Gehen ruft ihm Hudal noch hinterher: »Versuch es doch mal mit Beten, mein Sohn. Würde mich freuen, wo es doch schon immer mein Ziel war, den Katholizismus mit dem Nationalsozialismus zu verbinden.« Christian lächelt: »Ich werd’s versuchen. Versprochen.« Herrlich naiv, der Junge, denkt der Bischof und wendet sich wieder den überirdischen Dingen zu.
Fleisch! Nein, es war keine Sinnestäuschung, es war Fleisch, ein ganzes Stück, gebraten, saftig, garniert mit einer Scheibe Brot! Und ganz für ihn allein! Christian konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das Glück hatte, das letzte Mal so zu speisen, so königlich. Fabrizio bemerkte sein Zögern, seine großen Augen, und es schien, als könne er seine Gedanken erraten, worauf er ihm fröhlich zunickte als Bestätigung, dass dieses Mahl wirklich ihm zugedacht und tatsächlich real war. Sein Blick deutete ihm, doch nun endlich mit der »Verspeisung« zu beginnen, denn nichts schmeckte wirklich, wenn es kalt war. Zaghaft, übervorsichtig, um auch keine Sekunde des Genusses zu vergeuden, schob sich Christian den ersten Bissen in den Mund. Hmmm. Fabrizio verschwand. Nachdem er gegessen und sich gewaschen hatte, legte er sich in das bereit gestellte Bett. »So muss es im Himmel sein!«, stellte er für sich fest.
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