Meine Frau musste schon eine Weile zu Hause gewesen sein, denn der Duft von frischem Kaffee stieg mir in die Nase, während ich ihren Kuss erwiderte. Auf dem Couchtisch stand ein Strauß mit weißen Lilien wie jedes Jahr, wenn ich Geburtstag hatte. Eigentlich mochte ich rote Rosen lieber, aber Franziska bestand nach wie vor darauf, nur das zu verschenken, was ihr selber gefiel. Umgekehrt machte ich es, ihrem Wunsch entsprechend, genauso. Ich muss zugeben, wir führten schon eine merkwürdige Ehe, aber offenbar wünschte sich das keiner von uns anders.
Nachdem sie das Tablett mit dem Kaffee auf den Couchtisch gestellt hatte, begann unser alltäglicher Informationsaustausch und ich erzählte ihr von den ahnungslosen Kaufwilligen der Internet-Kunstauktionen. Es war gemütlich und ich hätte noch stundenlang einfach nur dasitzen und die Zeit mit ihr genießen können. Sie hatte nach all den Jahren immer noch etwas Aufregendes an sich. Ich liebte sie und war glücklich, sie damals getroffen zu haben.
Das war vor ungefähr fünf Jahren. Ich brauchte ein Passbild und wollte mich nicht in irgend so einen Kasten begeben, in dem man für einen kurzen Augenblick selbst Fotograf spielen muss, auf einen Knopf drückt und in wenigen Minuten für ein paar Euro sechs Fotos bekommt. Nein, ich brauchte richtig gute Bewerbungsfotos, und so lief ich meiner Frau gewissermaßen direkt in die Arme. Sie war gerade damit beschäftigt, ein Kind zu fotografieren und ich hatte das Glück, sie währenddessen zu beobachten. Jede Faser ihres Körpers schien sich darauf zu konzentrieren, den individuellen Typ des Kindes einzufangen. Sie wollte authentisch sein, was ihr mit Sicherheit auch gelungen war. Ich fand es schon damals bemerkenswert, mit welcher Ruhe sie ihr Vorhaben verfolgte. Zeit spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Das Ergebnis zählte und musste entsprechend vorbereitet werden.
Als ich an der Reihe war, disponierte ich kurz entschlossen um, und ließ statt der ursprünglich geplanten Passbilder Portraitaufnahmen machen. Es reizte mich immens, von dieser faszinierenden Frau von Kopf bis Fuß abgelichtet zu werden. Außerdem konnte ich durch diese Entscheidung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn meine Mutter lag mir schon lange in den Ohren, dass sie kein vernünftiges Bild von mir besäße, außer das von meiner Einschulung. Damit übertrieb sie zwar maßlos, aber das tat sie natürlich nur, um mich dazu zu bewegen, ihr ein aktuelles Foto von mir zu schenken. Nun war die Gelegenheit gekommen und ich ließ mich eingehend von der attraktiven Frau vor mir beraten. Sie zeigte mir einige Musterfotos von Männern, die möglicherweise aus dem gleichen Grund bei ihr gewesen waren wie ich, und wir tranken unseren ersten gemeinsam Espresso. Ich glaube, ich hatte mindestens anderthalb Stunden in ihrem Studio verbracht und währenddessen mehrere Passbildaufnahmen beobachtet, bis ich mir schließlich einen Termin für den nächsten Nachmittag geben ließ, um mich fachgerecht und mit sehr viel Einfühlungsvermögen porträtieren zu lassen. Diese Frau ging mir nicht mehr aus dem Kopf und ich überlegte fieberhaft, wie ich ihr näher kommen könnte.
Ich wäre noch gerne meinen Erinnerungen, die erst ein paar Jahre zurücklagen, nachgehangen, wurde aber in die Gegenwart katapultiert. “Ich habe uns heute Abend einen Tisch bestellt, Liebling!” Mein Blick fiel auf die Lilien und dann auf die Krücken. Jetzt wurde mir erst bewusst, was sie soeben gesagt hatte. “Du hast einen Tisch bestellt?” wiederholte ich ungläubig. “Aber du weißt doch, dass ich noch nicht so weit bin. Wir können uns auch etwas kommen lassen!” Sie lächelte mich verständnisvoll an: “Keine Angst mein Schatz, Markus, kommt auch mit. Wir passen schon auf dich auf. Irgendwann musst du ohnehin wieder unter die Leute, je früher, desto besser. Und jetzt werde ich mir etwas Schickes anziehen. Soll ich dir einen Anzug bringen oder willst du lieber in Hose und Jackett essen gehen? Am besten ich hole dir beides. Dann kannst du dich spontan entscheiden.” Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer und ließ mich allein.
Langsam wurde ich wütend. Zugegeben, mich machte es selber wahnsinnig, ans Haus gefesselt zu sein, aber hätte meine Frau mich nicht erst einmal fragen müssen, bevor sie einen Tisch in irgendeinem Restaurant bestellte? Immerhin handelte es sich bei der Veranstaltung, die es zu feiern galt, um meinen Geburtstag. Ein wenig mehr Einfühlungsvermögen ihrerseits hätte ich schon erwartet. Allmählich kam ich mir vor wie eine Marionette, die keine Bewegung ohne fremde Hilfe tun konnte. Hatte ich mein Leben nicht mehr selber in der Hand, sodass andere über meinen Tagesablauf bestimmten? Dieser Gedanke machte mich ganz verrückt, weil ich mir ausgeliefert vorkam. Noch mehr ärgerte mich der Umstand, dass Markus mitkommen sollte. Weshalb ausgerechnet er? Gut, er war unser Freund und besuchte uns in unregelmäßigen Abständen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich den Abend meines Geburtstags mit ihm verbringen musste. Ich fühlte mich überrollt oder noch besser ausgedrückt, entmündigt. Andererseits wollte ich es vermeiden, meine Frau vor den Kopf zu stoßen und nahm mir vor, das gemeinsame Essen so gut es ging hinter mich zu bringen. Im Grunde konnte ich froh sein, dass nur Markus kommen sollte. Hätten wir in den Augen anderer eine normale Ehe geführt, wären vermutlich schon am Nachmittag sämtliche Verwandte von mir unangemeldet bei uns eingefallen, um sich an den vorhandenen Vorräten gütlich zu tun. Aber das konnte uns glücklicherweise nicht passieren.
Die Weichen dazu hatten wir bereits an unserer Hochzeit gestellt, indem wir zu einem Picknick einluden. Jede und jeder sollte etwas Essbares mitbringen, woraufhin über die Hälfte der Verwandtschaft sofort absagte. Es überstieg ihre Vorstellungskraft, ein solches Ereignis mit einem Picknick zu begehen und damit auf ein üppiges Essen im Restaurant zu verzichten. Einige fühlten sich von uns sogar verschaukelt, was ich bis heute nicht verstehen kann. Es kann so spannend sein, einen ungewohnten Weg zu betreten und ihn ein Stück auszuprobieren, oder etwa nicht? Sie hätten hinterher immer noch die Möglichkeit gehabt, sich negativ zu äußern, aber sie verzichteten lieber komplett auf eine neue Erfahrung. Für uns bedeutete das letztlich, dass wir eine völlig ungezwungene Hochzeit mit unseren Freunden feiern konnten, denn auch die andere Hälfte der Verwandtschaft, bis auf zwei Ausnahmen, glänzte an diesem Tag durch Abwesenheit; selbst meine Schwester blieb weg, was ich zugegebenermaßen bedauerte.
Während ich noch darüber nachdachte, wie ich den gemeinsamen Restaurantbesuch mit Markus doch noch verhindern konnte, kam meine Frau zurück, und zwar in ihrem kleinen Schwarzen, das ihr nach wie vor ausnehmend gut zu Gesicht stand. Sie sah bezaubernd aus, und für einen kurzen Moment vergaß ich, weshalb sie in diesem aufregenden Kleid vor mir stand. Doch dann fiel mein Blick auf das, was sie über ihren Arm gelegt hatte, einen Anzug, zwei Hosen und ein Jackett. “Na, wozu hast du Lust,” fragte sie herausfordernd. Und mir fiel nichts Besseres ein, als “Auf dich natürlich”, zu antworten, woraufhin sie mich verführerisch ansah. Das weiß ich doch, aber den Appetit auf den Nachtisch solltest du dir für später aufbewahren. Außerdem möchte ich Markus ungern warten lassen. Sag schon, was willst du anziehen?”
Da war sie wieder, diese Eifersucht, die sich lediglich etwas zurückgezogen hatte, um mich mit neuer Kraft zu attackieren. Wie gerne hätte ich ihr die Stirn geboten und sie in ihre Schranken verwiesen, aber ich fühlte mich viel zu schwach und gab dieses Spiel verloren. Etwa eine halbe Stunde später betraten wir das Rossini, ein kleines, aber feines Restaurant, das seit vielen Jahren zu unseren Stammlokalen zählte. Vor meinem Unfall genossen wir mindestens zweimal wöchentlich die ständig wechselnden mediterranen Köstlichkeiten und gleichzeitig das gepflegte Ambiente des Nobelrestaurants. Es war nur ein paar Straßen von unserem Haus entfernt, sodass wir den Weg dorthin immer mit einem kleinen Spaziergang verbinden und dadurch auch etwas Alkohol trinken konnten. Dieses Mal mussten wir für die kurze Strecke das Auto bemühen, was mich nicht gerade fröhlich stimmte.
Читать дальше