Als draußen Schüsse fallen, bin ich sofort wach. Es muss mitten in der Nacht sein, die Öllampe ist erloschen und ich sehe gar nichts. Mein Herz klopft und das Blut rauscht in meinen Ohren. Mein erster Gedanke gilt Jules und dann Bob, die sich noch unten befinden. Olivia sitzt ebenfalls aufrecht und ich streichle ihr beruhigend über das Haar.
„Sei leise“, flüstere ich.
Es ist nicht nötig, dem Mädchen Anweisungen zu geben, das war es noch nie. Olivia wusste schon immer, was in gefährlichen Situationen zu tun ist. Und wer sagt, dass wir uns in einer gefährlichen Situation befinden? Mein Bauchgefühl natürlich. Ätzend.
„Psst, Julie.“ Hank rückt nah an uns heran. „Hast du das auch gehört?“
„Es war nicht zu überhören, Schlaumeier“, antwortet Rob aus der Dunkelheit und bringt meinen Magen wieder dazu, sich zu verknoten.
Erschreckend, wie viel Macht dieser Mann noch immer über mich besitzt.
Er ist nicht das Schlimmste, versuche ich, mir einzureden. Aber die Wunden sitzen tief und dass sie je verheilen werden, ist sehr unwahrscheinlich.
Erst wenn er tot ist, wispert ein dünnes Stimmchen und ich nicke. Ja, erst wenn er tot ist.
Die Stimmen hinter dem Tor werden lauter und mit einem knarrenden Geräusch öffnet sich der Eingang zur Scheune. Mein Herz bleibt kurz stehen, ich kneife die Augen zusammen und hoffe, dass Jules und Bobby sich bedeckt halten.
„Pa? Bist du hier? Wir haben dir was mitgebracht. Es wird dir gefallen. Pa?“
Keine Antwort und mir dämmert auch so langsam, warum. Pa liegt unter einem Berg aus Heu, mit einem roten Loch im Kopf.
„Scheiße“, zischt Judith kaum hörbar und zusammen robben wir zum Rand des Bodens.
Öllampen werden angezündet und jetzt sehen wir, dass Pas Familie nach Hause gekommen ist. Eine Frau mit grauem Haar geht um den Traktor herum. Sie hält etwas Rundes im Arm. Einen Ball?
Als sie ins Licht tritt, sehe ich, dass der Ball Haare, Augen, Nase und Mund besitzt. Judith schlägt die Hände vor das Gesicht und ich gehe sicher, dass Rob, Hank und Olivia hinter uns bleiben. Wenn sie davon erfahren, bricht hier oben die Hölle los. Hank wirft mir einen fragenden Blick zu und ich schüttle vor Schreck nur den Kopf.
Neben der Frau stehen zwei junge Männer und ein Mädchen, das nicht viel älter als Olivia sein dürfte. Mein Gefühl sagt mir, dass sie ganz bestimmt keine Freundinnen werden. Das werde ich zu verhindern wissen.
Die Männer halten jeweils ein Seil in der Hand und was sie da hinter sich her zerren, dreht mir den Magen um. Am Ende der Seile, an Händen und Füßen gefesselt, stehen ein Mann und eine Frau – beide nackt und zitternd. Ihre Münder sind zugeklebt und nur ein dumpfes Wimmern und Keuchen dringt unter dem Klebeband hervor. Der Schweiß läuft wie Öl an ihren Körpern herab und sie glänzen im Schein der Lampe.
„Heilige Scheiße“, flüstere ich und robbe zu den anderen zurück.
Ich schwitze und unterdrücke ein Würgen. Meine Zunge ist dick und pelzig und selbst ein Schluck Alkohol kann mir hier nicht helfen.
„Was ist los?“, fragt Rob. Mit einem Klaps auf die Schulter bringt Judith ihn zum Schweigen.
Wir halten einen Moment die Luft an und lauschen nach unten, aber die Leute sind so sehr mit ihrem Fang beschäftigt, dass sie uns noch nicht bemerkt haben. Großer Gott, lass das bitte nicht geschehen!
Wir müssen hier raus, so viel steht fest, aber wie holen wir Jules und Bob aus der Klemme? Die Familie lädt uns bestimmt nicht zum Kaffee ein. Ich bin mir sicher, dass sie gänzlich andere Pläne verfolgen.
Mein Blick irrt über den Heuboden und bleibt an einem Fenster hängen. Natürlich!
Ich bedeute den anderen, dicht zusammenzurücken.
„Wir müssen abhauen, und zwar schnell und leise. Das ist die Familie von dem toten Kerl und sie werden nicht glücklich sein, wenn sie Daddys leblosen Körper finden.“ Ich verschweige zunächst die Gefangenen. Der detaillierte Bericht muss bis später warten. „Ihr haut durch das Fenster ab.“
„Was heißt denn ihr? Was ist mit dir?“, will Hank wissen.
„Jules und Bob sind noch unten. Ich muss sie irgendwie hier rausschaffen. Glaubt mir, mit diesen Leuten werden wir nicht reden können.“ Judith bestätigt das mit einem heftigen Nicken. „Bringt Olivia heil nach unten und wartet draußen auf uns.“
„Es ist viel zu hoch“, wirft Judith ein. „Und außerdem habe ich keinen Bock mehr auf deine One-Man-Show, Julie Mond! Wir hängen zusammen hier drin und kommen zusammen wieder raus.“
„Du hast recht“, sage ich und schaue in ihr verdutztes Gesicht. „Hank bleibt bei mir. Du kümmerst dich um Olivia. Ich vertraue dir, dass ihr nichts zustößt.“
Mein Blick fällt auf Rob und sie weiß, wovon ich spreche.
„Okay“, antwortet Judith. „Aber wie soll es denn gehen? Wir brechen uns die Beine, wenn wir runterspringen, und an der Fassade zu klettern ist unmöglich. Viel zu glatt.“
„Hinten liegt eine Kette. Die kann ich am Fenster befestigen und wir seilen uns ab.“ Der erste vernünftige Kommentar von Rob. Ich bin begeistert.
„Das ist viel zu laut“, wendet Hank ein.
„Da kommen wir ins Spiel, mein Freund“, sage ich. „Wir lenken die Gesellschaft unten ab, so können die drei unbemerkt verschwinden.“
„Was ist mit Jules und Bob?“, fragt er weiter.
Ich zucke mit den Schultern: „Das wird sich zeigen. Je nachdem, wie es läuft.“
„Je nachdem, wie es läuft? Das ist der ganze Plan? Julie, das sollten wir besser durchdenken. Vielleicht sind die beiden auch schon weg.“
„Ohne uns mitzunehmen? Niemals.“ Ich fasse Hank bei den Schultern. „Wir müssen es versuchen. Bitte. Ich brauche deine Rückendeckung. Wir wissen nicht, was das für Menschen sind, aber der erste Eindruck war nicht gerade vielversprechend. Die alte Lady trägt einen abgetrennten Kopf im Arm. Einen Kopf, Hank!“
Mir wird plötzlich heiß und kalt zugleich. Was ist, wenn … Ein Kreischen lässt uns zusammenzucken und ich fluche innerlich. Sie haben die Blutlache entdeckt. Jetzt bleibt uns keine Zeit mehr. Sie werden alles durchsuchen, uns finden und ich will nicht wissen, was dann mit uns geschieht.
Olivias große braune Augen beobachten mich voller Schrecken. Sie ist so ein tapferes Mädchen und hat diese Scheiße nicht verdient. Niemand hat das. Abgesehen von Rob versteht sich, dem ich einen Zombiebiss durchaus gönne. Ich muss improvisieren, um meinen Freunden wenigstens eine Chance zu ermöglichen.
„Los geht’s“, sage ich und bevor die Gruppe bemerkt, worauf ich hinauswill, stehe ich auf und gehe zur Leiter.
„Oh, wow. Guten Morgen“, rufe ich von oben und gewinne sofort die Aufmerksamkeit der Familie unten. „Ist der Kaffee schon fertig oder kann ich mich noch eine Weile hinlegen?“
„Julie, bist du verrückt?“, höre ich Hank in meinem Rücken, drehe mich aber nicht um.
Ja, das ist doch nichts Neues, Hanky Boy.
Die beiden Kerle glotzen dümmlich und mit offenem Mund zu mir herauf und die Gefangenen beginnen heftig zu zittern. Sie schnaufen und der Rotz läuft ihnen die Nase hinunter. Der Mann will mir offensichtlich etwas mitteilen, die Frau fängt an zu weinen.
Ich stecke tief in der Scheiße, diese Information ist bereits bei mir angekommen, vielen Dank. Die alte Lady tritt vor und streichelt versonnen den abgetrennten Kopf. Jemand muss ihr dringend erzählen, dass es sich hier nicht um eine kuschelige Katze handelt.
„Guten Morgen“, sagt sie und klingt erschreckend normal.
Wer einen Kopf im Arm hält, sollte doch zumindest ein bisschen wie der Teufel klingen, oder? „Möchtest du zu uns kommen?“
„Puh, nein, eigentlich nicht“, antworte ich und versuche lässig zu wirken. In Wahrheit spielen meine Gedanken verrückt.
Читать дальше