Bleib stark, Julie. Stell dir vor, sie ist dein Vater. Wie damals, weißt du noch? Jules hatte solchen Hunger und du hattest eine Wurst für ihn aus dem Kühlschrank geklaut. Mann, war der alte Herr wütend, als er die fehlende Wurst bemerkte. Wer sollte denn auch ahnen, dass alle Lebensmittel nummeriert waren? Du hast dich ihm entgegengestellt, hast deine Angst runtergeschluckt und gelogen, bis du deine eigene Lüge glaubtest. Du hast zwar trotzdem Schläge einstecken müssen, aber nicht wegen der Wurst.
Das kannst du jetzt auch. Zeig keine Angst.
Die Angst tötet dich.
„Mädchen, bist du allein?“ Ihre Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. „Ach, komm runter, Herzchen. So führt man doch keine Unterhaltung. Ich kann dich besser verstehen, wenn wir uns in die Augen sehen und du schuldest mir ein paar Antworten. Das siehst du doch ein, oder?“
Sie deutet auf die Blutlache und meine Kehle wird trocken. Ich huste ein-, zweimal und nicke. Da ich das Spiel angefangen habe, komme ich ohnehin nicht drum herum. Hinter mir wird es unruhig, als ich die Leiter umfasse, um rückwärts hinunterzusteigen. Ich schaue jeden Einzelnen an und jeder von ihnen weiß, dass es kein Zurück gibt. Rob reicht Hank eine Waffe und ich bete, dass Hanky Boy ein guter Schütze ist.
Unten angekommen, läuft die Fremde sofort auf mich zu, aber ich strecke die Arme aus und rufe: „Immer mit der Ruhe, Lady! Die Kennenlernphase ist noch nicht vorbei. Abstand halten, verstanden?“
Aus der Nähe betrachtet, sieht meine Lage auch nicht viel besser aus. Das Mädchen ist mittlerweile auf den Traktor geklettert und spielt mit ihren verfilzten schwarzen Haaren. Ich hoffe, sie kann von dort oben nichts sehen oder hören. Momentan bin ich noch das Ziel und es gefällt mir überhaupt nicht, wie sie mich fixiert. In ihren Augen erkenne ich einen Hunger, den ich bisher nur bei den Zombies gesehen habe. Die beiden Kerle wenden ihre Blicke auch nicht von mir ab, aber was sich in deren Gedanken abspielt, ist geradezu offensichtlich.
Mein Blick schweift an der Familie vorbei, über die Boxen, auf der Suche nach einem Hinweis oder einer Bewegung. Ein Zeichen vielleicht? Kommt schon, irgendein Zeichen? Sollte Hank recht behalten, haben Jules und Bob sich rechtzeitig geflüchtet? Wenn ja, wartet eine Menge Ärger auf die beiden. Ich nehme nur ungern das Risiko der Konfrontation mit einer durchgeknallten Familie auf mich. Die Erfahrung kann ich bereits von meiner Lebensliste streichen.
„Na schön“, erwidert die grauhaarige Frau und ein Grinsen stiehlt sich auf ihr Gesicht. Endlich, ein Zeichen, dass doch ein kleiner Teufel in ihr wohnt. „So verfahren wir normalerweise nicht, aber ich finde dich interessant.“
„Sie ist witzig, Ma“, ruft das Mädchen vom Traktor und kichert.
Oh je, sie ist die Erste, die das von mir behauptet. Ich lache nervös und weiß nicht, was ich sagen soll.
„Wie fange ich am besten an? Ja, wir stellen uns vor. Entspricht das deinem Wunsch?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, spricht sie weiter: „Darf ich dir meine beiden Jungs vorstellen? Das sind Marty und Nico. Zwei gut aussehende Burschen, nicht wahr?“
Um ehrlich zu sein, sehe ich nur zwei zu groß geratene Schweine vor mir, die mit einem abartigen Grinsen ihre eindeutigen Absichten unterstreichen. Ein beißender Geruch geht von den beiden Männern aus und aus ihren Mündern ragen graue, faulige Zähne, die ganz sicher bereits vor der Apokalypse vernachlässigt wurden.
Mit einem Satz springt das Mädchen vom Traktor und stellt sich zu den beiden Männern, die gerade damit beschäftigt sind, die Gefangenen an einen Holzbalken zu fesseln. Die Nackten erbitten stumm meine Hilfe und ich fühle einen riesigen Klumpen Mist in meinem Magen. So gerne ich ihnen helfen möchte, Jules und Bob stehen an erster Stelle. Genauso wie meine Freunde auf dem Heuboden und Hank, der mir hoffentlich im richtigen Moment Rückendeckung gibt.
Es tut mir leid, aber ich muss an meine Gruppe denken.
„Ich bin Poppy“, sagt das Mädchen und zeigt auf sich und dann auf Marty und Nico, „und das sind meine Brüder. Du siehst kacke aus. Hat dir das mal jemand gesagt? Was ist das da auf deinem Hemd?“
Ich schaue an mir herab und sage: „Das ist Blut und eine Menge Zombieschleim. Sorry, das bekommt man ganz schlecht raus. Hier gibt es nicht zufällig eine Waschmaschine?“
Mein Herz rast und ich tadle mich selbst: Julie, reiß dich zusammen. Du und dein loses Mundwerk!
Poppy lacht und kommt näher. Mit einem Finger zeigt sie auf mein Gesicht. Dem Mädchen hat die Mutter kein Benehmen beigebracht.
„Deine Nase ist voll krumm und was ist mit deinem Mund passiert?“
Unbewusst fasse ich an mein Gesicht und denke an den Moment, als ich mir selbst ein halbes Lächeln geschnitzt habe. Ich sehe Ruby vor mir und Hank, der um das Leben seiner Liebsten kämpfte, obwohl ein Biss sie längst entstellt hatte. Mir wird kalt und mit der Kälte verschwindet die Angst. Alles, was bleibt, ist meine Wut und ich heiße sie herzlich willkommen.
„Das ist eine lange Geschichte“, antworte ich und kann das Zittern nicht aus meiner Stimme verscheuchen.
Diese Leute denken, sie könnten mich beeindrucken, aber es gibt nur wenig, was mich tatsächlich noch überrascht. Ich habe alles erlebt und kann alles ertragen.
„Bist du dumm oder so?“, fragt Poppy und bringt mich wieder zum Lächeln.
Nein, Lebensmüde. Definitiv Lebensmüde.
„Ach, halt doch dein blödes Maul!“ Ohne Vorwarnung schlägt die alte Lady Poppy ins Gesicht.
Die fällt rückwärts auf den Po. Blut läuft aus ihrem Mund. Trotz der Schmerzen grinst Poppy und zeigt mir ihre blutig roten Zähne.
„Das Mädchen redet zu viel“, entschuldigt sich die Frau.
Sie reicht mir ihre Hand, aber ich lehne ab. Nicht nur, weil die Berührungen von Fremden mich ängstigen, sondern auch, weil sie in meinen Augen bereits tot ist. Sie zieht die Hand zurück.
„Ich bin Grace und wer bist du, Herzchen?“
Grace? Ist das ihr verdammter Ernst?
„Julie“, antworte ich und füge etwas lauter, damit auch Jules und Bob mich hören können, hinzu: „Julie Mond.“
Scheiße, wo sind sie und was dauert da oben so lange?
Grace wendet sich an ihre Kinder: „War das so richtig? Sind das die ersten Schritte, um sich kennenzulernen? Wie amüsant! Entschuldige, Julie, aber es ist ewig her, dass wir uns die Mühe gemacht haben, eine richtige Unterhaltung zu führen.“
Einer ihrer Söhne antwortet, Marty oder Nico, wer auch immer: „Ja, normalerweise stopfen wir allen das dämliche Maul und haben dann unseren Spaß.“
„Genau“, grunzt das andere Schwein. „Unseren Spaß.“
Wie auf Kommando befassen sich die Brüder mit den Gefangenen und beginnen, deren Körper abzutasten. Sie streicheln, kneifen und lecken über die ölige Haut. Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus und ich weiß nicht, wohin ich schauen soll. Die Wut wirbelt meine Gedanken durcheinander.
Bleib ruhig, Julie. Bleib ruhig!
„Ich fühle mich geschmeichelt, ehrlich.“ Ich schlucke die ersten Brocken Erbrochenes runter. Hank, wo bist du?! „Dann muss ich ja etwas ganz Besonderes sein.“
„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Graces Augen verdunkeln sich und im Hintergrund höre ich gedämpfte Schreie. „Es kommt ganz darauf an.“
„Worauf?“, will ich wissen.
Was für eine selten dämliche Frage, Julie! Du weißt genau, wohin das hier führen wird.
„Hier, halt mal.“
Während Grace spricht, sehe ich einen Kopf auf mich zufliegen und fange ihn auf.
„Gut gemacht.“ Sie applaudiert. „Du hast Howard gefangen. Wir töten niemanden, der Howard fängt. Du hast recht, Julie Mond. Du bist etwas Besonderes. Ich habe es gleich an deinen kalten Augen gesehen. Du gehörst zu uns.“
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