Ob es meinem Ruf dient, dass ich einen abgetrennten Kopf aufgefangen habe? Grace wusste es immerhin zu schätzen.
Judith zündet erst mir, dann sich eine an.
„Ja, wir sind verrückt“, sagt sie, als Hank auf uns zukommt und den Mund zu einer seiner Ansprachen öffnet. „Das hier ist eine Scheune, voll mit Heu. Das willst du doch sagen Hank, richtig? Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir hier alles abfackeln. Wir werden bestimmt heute oder morgen sterben, aber nicht bei einem Feuer. Versprochen.“
Hank klappt seinen Mund wieder zu und geht zu meinem Bruder und Bobby, die aus unseren Rucksäcken Kleidung für die Opfer heraussuchen. Rob murrt etwas Unverständliches, aber Bobby bringt ihn zum Schweigen. Es ist beruhigend, dass mein alter Freund zu sich zurückgefunden hat.
Olivia sitzt bei uns und zeigt Poppy den Stinkefinger, die ihr wiederum unheimliche Luftküsschen zuwirft. Das Mädchen hat definitiv einen Schlag zu viel auf den Kopf bekommen.
„Leben am Limit.“ Judith genießt die ersten Züge und sieht mich forschend an.
Ihr Gesicht ist für meinen Geschmack zu nah an meinem und ihr schlechter Atem dringt in meine Wohlfühlzone ein. Ich möchte sie am liebsten schlagen.
„Ich könnte da gut drauf verzichten, aber zu einer Zigarette sage ich nicht nein“, antworte ich und rücke ein Stück zur Seite, weil ich Judith nicht verletzen möchte.
Sie ist immerhin meine Freundin und mein Atem riecht bestimmt auch nicht nach Pfefferminz.
Rauch füllt meine Lungen, ich huste und ziehe noch einmal an der Zigarette. Auch wenn sich alles in mir sträubt, drehe ich mich zu Grace um und betrachte ihre hasserfüllten Blicke. Ich gehöre nicht mehr zu ihrer Familie, so viel steht fest.
Was soll mit den Vieren geschehen? Lassen wir sie leben? Das würde bedeuten, dass sie sich neue Opfer suchen, sie quälen, missbrauchen und Gott weiß, was sonst noch. Monster wie diese drei hören nicht einfach auf. Nein, sie machen immer weiter, bis jemand kommt und das Ganze beendet. Sollten wir diejenigen sein, die sie töten? Können wir das?
Wir müssen, sagt eine Stimme in meinem Kopf.
Mein Blick fällt auf Poppy. Wenn wir sie tatsächlich töten, dann muss auch ich sterben. Das Mädchen ist das Ergebnis von etwas Schrecklichem, das ihre Eltern zu verantworten haben. Und die Wahrheit ist: Ich bin wie sie. Ich bin wie mein Vater. Ich bin ein Monster.
„Hey.“ Judith unterbricht meine Grübelei. „Was bedrückt dich?“
„Abgesehen von dem ganzen Scheiß hier? Oh, gar nichts“, antworte ich bissig, aber meine Freundin nimmt es mir nicht übel.
„Lügnerin. Ich weiß, was los ist.“
„Dann behalt es einfach für dich, okay?“ Meine Laune wird immer schlechter und die Angst kriecht meinen Nacken hinauf. Judith und ich kennen uns erst seit wenigen Tagen, aber sie weiß besser über mich Bescheid, als mir lieb ist.
Natürlich behält sie ihre Gedanken nicht für sich.
„Warum trage ich wohl eine Glatze?“, fragt sie und ich zucke mit den Schultern.
„Weil es dir gefällt?“
„Nein.“ Sie schüttelt lächelnd den Kopf. „Seit meiner Kindheit hasse ich Haare. Besonders meine eigenen. Ich kann nicht verstehen, wie jemand Friseur werden kann; komisch, oder? Na ja, auf den Luxus müssen wir in Zukunft sowieso verzichten.“
Das klingt nach einer Geschichte, die ich nicht hören will, aber was wäre ich für eine Freundin, wenn ich jetzt nicht für sie da bin?
„Meine Eltern trennten sich, da war ich neun Jahre alt. Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht meines Vaters, aber ich sehe noch die gepackten Koffer vor mir und höre das Geräusch der zufallenden Tür, als er sich eines Morgens verpisste. Er gab mir keinen Kuss und er hinterließ keinen Brief. Es gab keine Anrufe und offensichtlich wollte er mich auch nicht wiedersehen. Er verschwand einfach und ließ meine Mutter und mich zurück.“
Judith holt tief Luft und erzählt dann weiter: „Meine Mutter trauerte und ich stützte sie in der Zeit, so gut ich es konnte. Ich gab mir die Schuld für die Trennung. Was sollte ich auch anderes denken? Ich hörte nichts von meinem Vater und der Streit fand nur zwischen den Anwälten meiner Eltern statt. Eines Tages kam ich von der Schule nach Hause und statt eines Mittagsessens fand ich eine Bürste auf dem Küchentisch. Meine Mutter wollte mein langes schwarzes Haar bürsten, sie tat es sanft und mit viel Ruhe. Ich hatte nach dem Schultag Hunger und fragte sie nach dem Mittagessen, da begann der Albtraum. Sie fing an, mich zu beleidigen, schimpfte, zog und zerrte an meinen Haaren, riss mir ganze Strähnen aus, bis sie sich endlich wieder beruhigte. Das wiederholte sich ein oder zweimal die Woche und die Grausamkeiten steigerten sich mit jeder neuen Frisur, die sie mir verpasste. Zu ihren Spielzeugen gehörte zum Beispiel eine Bürste mit spitz gefeilten Borsten, oder ein Scherenkamm und manchmal, ja, manchmal steckte sie sich einfach Nägel zwischen die Finger. Damit riss sie meine Kopfhaut auf, bis das Blut über meine Stirn und in den Nacken tropfte. Sie stellte den Föhn auf höchste Stufe und hielt ihn solange an eine bestimmte Stelle, bis ich vor Schmerzen vom Stuhl fiel. Dann gab es noch das Glätteisen, das meine Ohren verbrannte. Wenn ich Glück hatte, verprügelte sie mich nur damit.
Was glotzt du mich so an, Julie? Fragst du dich, warum ich nicht einfach weggelaufen bin? Ich hab darüber nachgedacht, ehrlich, aber sie war meine Mutter und sie brauchte mich.
Es wurde so schlimm, dass ich nicht mehr regelmäßig in die Schule gehen konnte und es dauerte knapp drei Monate, bis meine Lehrerin vor der Tür stand, zusammen mit zwei Polizisten. Der Horror war vorbei, und das so schnell, dass mir die Zeit noch immer wie ein langer, schrecklicher Albtraum vorkommt. Ich wurde in eine Pflegefamilie vermittelt und hörte nie wieder etwas von meiner Mutter. Was meinst du, war das Erste, was ich nach der Geschichte gemacht habe?“
Ich habe keinen blassen Schimmer und bin derart geschockt, dass ich keinen Ton herausbekomme.
Judith lächelt nachsichtig und erzählt: „Mit einem Messer rasierte ich mir eine schöne Glatze. Stell dir das mal vor; ein neunjähriges Mädchen mit Glatze! Mit 16 ließ ich mir das Tattoo auf dem Hinterkopf stechen. Es verdeckt die Narben.“
„Hast du je wieder von deinen Eltern gehört?“, fragt Olivia.
„Nein. Und weißt du was? Das ist auch gut so. Ich erinnere mich nur an ein Foto, das mir die Polizei später mit ein paar anderen Sachen gab. Es war ein Schnappschuss meines Vaters mit einer jungen Frau. Sie hatte auffallend lange schwarze Haare.“
Judith wendet sich an mich und greift nach meiner Hand. Mein Herz rast, aber ich lasse es zu und ziehe die Hand nicht zurück.
„Ich will dich nicht mit Geschichten aus meiner Kindheit langweilen, Julie. Ich sehe, dass du auch nicht auf rosa Einhörnern geritten bist. Du weißt genau, wovon ich spreche. Ich möchte dir damit nur sagen, dass nur du allein entscheiden kannst, was aus dir wird. Nur du entscheidest dich für links oder rechts, weiß oder schwarz, gut oder böse. Du bist kein Monster, weil andere es dir sagen. Du bist erst ein Monster, wenn du dich wie eines verhältst. Und ich sage dir noch was, Julie Mond: Du bist ein guter Mensch mit vielen Macken. Eigensinnig, vorlaut, stur, eine Frau mit Ecken und Kanten. Kein Monster. Du gehörst zu uns. Und weil ich eine gute Freundin bin, werde ich dir auch beibringen, wie man über einen Zaun klettert.“
„Mann, das wird mir ewig nachhängen.“
Ich lache wie eine Krähe und fasse mir an den Hals, den Nico kurz zuvor noch zusammengequetscht hat. Tränen laufen über meine Wangen. Schuld daran muss die Müdigkeit sein. Ich hasse es, zu weinen.
Zwei Arme legen sich um meine Schultern und ich rieche Olivias süßen Duft. Sie hält mich in einem Moment, in dem ich zu zerbrechen fürchte. Ihre Berührungen sind die einzigen, die mich nicht bedrängen, nein, sie fügen die Scherben meines Lebens wieder zusammen.
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