Mathilde war danach ziemlich schweigsam und drängte zum Aufbruch. Wie immer missfiel es ihr, wenn er anderen Frauen Komplimente machte. Fehlte noch, dass er Frisette einen Zwanzig-Franc-Schein in den unverschämt tiefen Ausschnitt steckte. Vielleicht auch, dass sie den fliegenden Röcken, hohen Beinwürfen und obszönen Spagatsprüngen nicht länger zusehen wollte. Wenn du tanzen siehst, dachte sie vielleicht, so denke an das blutige Haupt Johannes des Täufers auf der Schüssel, und das höllische Gelüste wird deiner Seele nichts anhaben können! Zu Hause war sie immer noch etwas verstimmt und ging zeitig zu Bett.
So geht er das nächste Mal allein hin, und immer kommt Frisette an seinen Tisch und hofiert ihn mit echter Bewunderung. Da passiert ihm wie gesagt das Ungeheuerlichste und Schlimmste: Er verliebt sich in sie. Mit Urgewalt, wie mit Zyklonenkraft entfesselnd reißt es ihn aus seiner Verankerung, zerbricht das gefrorene Meer in ihm und drängt ihn mit sentimentaler Gewalt zu ihr hin. Nicht einmal ein Kollege wie Gerhart Hauptmann sieht da, in Einsame Menschen , eine Lösung. Sie ist eine so aufrichtige Verehrerin, wie er seit Lottchen von der Landwehr keine mehr hatte:
Der Ton der Stimme ist so treu und innig,
Man glaubt zu schaun bis in der Seele Grund;
Und alles, was sie spricht, ist klug und sinnig;
Wie eine Rosenknospe ist der Mund ...
Hätte seine Liebe zu ihr auch nur eine Spur Hoffnung, würde er sich jetzt wie bei all seinen neuen Flammen, für die er sich aufsparen will, aller sexuellen Gedanken an sie enthalten.
So aber, weil er verheiratet ist und seine neue Liebe keine Aussicht auf Erfüllung hat, muss er sie so schnell und wirksam wie möglich aus seinem aufgestachelten Blut heraus kriegen. Er weiß, das geht nur auf eine Weise. Wäre er frei, würde er sich wie immer, wenn er frisch verliebt war, im Hinblick auf sie die Selbstbefriedigung versagen. So aber, da er Mathilde treu bleiben will, gibt es keine andere Möglichkeit, sie einigermaßen wieder aus seinem Blut zu löschen.
So liegt er schlaflos neben Mathilde im Bett. Immer noch spürt er den Stachel im Fleisch, der ihn schon den ganzen Abend lang stach und nur während der Heimfahrt in der Droschke scheinbar abgeflaut war. Er kennt es gut, dieses Kribbeln, wie stets, wenn ihm das Bild einer fremden Frau, ihres Gesichts, einer Schulter, eines Beins oder Pos, das er während des Tages aufgeschnappt hat, nicht mehr aus dem Sinn geht, ihn, wenn er sich nicht davon befreit, bis in den Abend und noch in Schlaf und Traum hinein verfolgt und ihn tyrannisch beherrscht. Es ist, als erfülle ihn vom Scheitel bis zur Sohle, bis unter die Schädeldecke hinein, eine bestimmte warme Sinnlichkeit. Natürlich ist es das elektrochemische Feld der sexuellen Erregung aus tausend kleinen flackernden Flämmchen, die über das ganze Gehirngewebe hin hier und dort aufglimmen, ihm keine Ruhe mehr lassen und hartnäckig darauf bestehen, weiter zu lodern, zum Feuer zu werden und als alles versengender Steppenbrand über die neuronale Savanne seines Nervensystems zu rasen. So ist es jetzt mit Frisette und ihren hochgeworfenen Beinen unter dem roten Dessous, und den durchsichtigen Strümpfen bis zur Mitte der Oberschenkel, wo sie mit einem dreifarbigen Rüschchen in den Farben der Tricolore abgeschlossen und mit geilen Strumpfbändern an den Hüften festgeschnallt ihm unaustilgbar ins Blut gekrallt sitzen.
Er, der annähernd Vierzigjährige, fühlt sich doch wie mit siebzehn. Der Reiz kommt von ganz innen aus den entlegensten Verästelungen seines Nervengewebes, der Myriaden von Dendriten und Synapsen, und erfüllt sein ganzes Nervensystem, und er weiß, es gibt nur eine Möglichkeit, eine einzige, sich des Reizes zu entäußern: indem er ihn konsequent weiter steigert und durch seine Explosion zum Verschwinden bringt. Soll er mit Mathilde schlafen? Sie wecken und versuchen, an ihrem Fleisch den Reiz abzubüßen, mit dem ihn das Bild der andern erfüllt? In derselben Art Ehebruch im Ehebett wie von Lolita und anderen Nympfchen her? Wir kennen das von dem Psychologen Ferenczi: „Es gibt Männer, die mit ihren Frauen, trotz der Abnahme der Libido, häufig sexuell verkehren, dabei aber in der Phantasie die Person der Frau durch eine andere ersetzen, die also gleichsam in vaginam onanieren.“ –
Mit einem unmerklichen Seitenblick versichert er sich, dass Mathilde leise schnarchend bereits schläft. Sie hat überhaupt einen guten Schlaf. Sie hat keine Ahnung von seiner lausigen Schlaflosigkeit. Er könnte sich von hinten an sie heranmachen und sie sanft wecken, und sie würde sich ihm wie immer nicht verweigern. Er würde mit ihr schlafen und dabei Frisettes Bild vor Augen haben.
Doch wäre das erfahrungsgemäß aller Wahrscheinlichkeit nach keine Lösung: Er kann die sinnliche Erregung, mit der ihn die Sehnsucht nach einer bestimmten Frau erfüllt, nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass er sie stellvertretender Weise am Fleisch einer anderen abreagiert. Das Alibi in Mathildens Schoß wäre nicht die eigentliche Erfüllung des authentischen Reizes, es wäre nur eine verfremdete, alienierte Spielart, die das ursprüngliche Verlangen nicht beseitigen kann. Seine Sehnsucht nach Frisette ist wie ein tief und radikal im Untergrund verwurzelter Baum, der, um die Seele befriedigt zu hinterlassen, genauso radikal mit all seinen Verästelungen entwurzelt werden muss. Beim Orgasmus mit Mathilden aber risse der Stengel kurz über dem Erdboden ab und man hätte nur den oberen Teil, während das verzweigte Wurzelwerk der Sehnsucht im Boden verhaftet bliebe und ihn weiter umtreiben würde. Wie wenn das neuronale Feld in seinem Gehirn gleichsam nur peripher am Rande abgebrannt und der Steppenbrand, der in ihm lodert, anstatt gelöscht, nur leicht erstickt, in Wahrheit aber unterschwellig weiter schwelen würde. Wie anders könnte er sich davon befreien, als diese Brunst voll und ganz zu löschen?
Erfahrungsgemäß geht das nur durch Selbstbefriedigung. Einem authentisch phantasieerzeugten Verlangen kann immer auch nur wieder durch die Phantasie selbst genügt werden. Von einem so tiefverwurzelten Reiz, mit dem ihn Frisettes Bild erfüllt, kann ihn höchstens die Lust mit Frisette selbst befreien. ,Höchstens' – da er doch aus Erfahrung weiß, dass der sinnlichen Erregung, mit der ihn die Sehnsucht nach einer Frau erfüllt, gemeinerweise nicht einmal dadurch beizukommen ist, dass wir mit der Frau schlafen; kein Fleisch, auch ihr eigenes nicht, kann halten, was uns die sexuelle Phantasie verheißt, so heiß verheißt. Solcher Phantasie ist nur durch die Phantasie selbst zu genügen. Es ist, als könnten die von dem Inbild der Frau – ein Bild, das nicht nur optischer Herkunft ist, sondern sämtliche Dimensionen der Seele umfasst – gereizten und angefeuerten Zellen der hedonistischen Zentren auch wieder nur durch die Wirkung der Phantasie selbst gezielt zum Feuern gebracht werden. Der anonyme Kontakt des Fleisches findet die richtigen Adressen nicht. Wie bei Danton: Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nach einander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab .
Also ist auch der sinnliche Aufruhr durch Frisette nur dadurch zu befrieden, dass er sich in Gedanken an Frisette selbst befriedigt. Als ich ein Knabe war, fühlte ich immer eine brennende Sehnsucht, wenn schöngebackene Torten, wovon ich nichts bekommen sollte, duftig-offen bei mir vorübergetragen wurden; späterhin stachelte mich dasselbe Gefühl, wenn ich modisch entblößte, schöne Damen vorbeispazieren sah ! Das duldet auch keinen längeren Aufschub, so aufgestachelt er jetzt durch seine Erinnerung an sie ist. Er spürt, es braucht nicht viel zu dieser Befreiung. So bis in die äußersten Fasern seines Nervengewebes hinein erfüllt ihn ihr Appeal, dass es nur geringer Handhabungen bedarf, bis die Erinnerung an sie explodiert und er sich ekstatisch entäußert.
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