"Rationalisierung" heißt im Klartext, sich aus einer instinktiven, bereits vollzogenen Handlung mit Verstandesargumenten herauszureden oder auch für sich selbst „schönzureden“ ("das zweite Paar Stiefel gab es ja dann für die Hälfte" oder: „Wenn man die Rückbank (in dem neuen Sportwagen) umklappt, kann ich auch noch prima einen Kinderwagen unterbringen, etc...".
Unser jeweiliges menschliches Gegenüber spürt dabei oft genug genau den "nachgeschalteten“ Charakter unserer vordergründig analytischen Argumentation - und denkt sich bestenfalls seinen Teil, um uns zu schonen („Ich gönns ihm/ihr ja!“).
Wenn ich jedoch von der Pflege intuitiver Wahrnehmung spreche, meine ich damit die erlernbare Kulturfertigkeit, den körperlich spürbaren Sinneseindruck eigener Handlungsimpulse zunächst auf eine bewussten Ebene zu heben ("dem könnte ich jetzt gut eins auf die Nase hauen") ohne sofort - und eben intuitiv - zu handeln. Dafür werde ich unterschiedlich viel Zeit benötigen und der Volksmund kennt das Phänomen natürlich auch: "Erst mal tief Luft holen und bis 10 zählen".
Das kreist folgende Herausforderung dieses Buches ein: Unser Gehirn immer wieder mitzunehmen und den sich anbahnenden Ringkampf loszulassen, in dem ich meine aktuelle Emotion zunächst loslasse und dann betrachte.
Handfeste körperliche Auseinandersetzungen kommen heute im Vergleich mit der Steinzeit seltener vor und falls es doch soweit gekommen ist, wird dieses Buch nicht weiterhelfen. Es hilft aber, alle anderen Ringkämpfe nicht mehr mitzumachen, aber durchaus auch körperliche Auseinandersetzungen von vornherein zu vermeiden. Deshalb setze ich die gleichen Techniken auch im Antiaggressionstraining mit gewalttätigen Menschen ein.
Für alles, was sich in zwischenmenschlichen Konfliktszenarien - abseits krimineller Situationen - abspielt, gibt es im Vertrauen auf unseren Körper eine Unterstützung, die funktioniert. Aber immer nur dann, wenn ich selbst mutig genug bin, auch unter Stress zunächst über Körperwahrnehmung meine Emotionen zu beobachten und nicht sofort zu handeln.
Wenn ich mich im Detail mit Sprache im Angesicht des Anderen beschäftige, wird mir klarer werden, dass sich die meisten Machtkämpfe bereits in meinem eigenen Kopf abspielen. Dafür benutze ich die "Sprache im Gehirn", meine Kampfdialoge im Kopf, das heißt mein Denken.
Wie lerne ich, mich in ICH-Botschaften selbst zu beschreiben, um mich zu beschützen?
Mit Mut! Ich habe in der Einleitung davon gesprochen, dass für unser emotionales Selbstregulationssystem die Bewältigung schwieriger zwischenmenschlicher Herausforderungen „Ausflüge in die Angst“ bedeutet. Wenn ich soetwas bewusst betreiben möchte, dann folgen jetzt Anleitungen für genau diese Herausforderungen. Denn nicht jeder kann oder will Trapez-Übungen wie die zitierte amerikanische Managerin als Angstbewältigungstraining in den Alltag einbauen.
Wenn ich in diesem Sinn Selbstoffenbarung und Ich-Botschaften übe, dann geht es hierbei um mehr, als in Management-Seminaren vermittelt wird. Dort wird die Ich-Botschaft als Ausdruck der Klarheit und als Instrument von Führung beschrieben. Und damit wäre es auch funktional. Oft zeigen diese Trainings aber wenig Wirkung, weil der Aspekt von Angstbewältigung hierbei meist nicht erwähnt wird; in solchen Seminaren darf ich bislang das Wort Angst kaum in den Mund nehmen.
Wenn sich aber ein Konflikt zuspitzt, dann geht es immer auch um meine Angst. Und unter diesem Angst-Stress kommt es dann nicht mehr zur Umsetzung von gelernten Ich-Botschaften, da werden wir lieber scharf schießen oder uns unterwerfen. Dafür sorgt schon mein Altgehirn aus der Steinzeit, wenn der Bedrohungspegel nur entsprechend hoch wahrgenommen wird. Mancher fragt sich vielleicht, weshalb die Steinzeit immer so schlecht bekommt. Dies hat aus meiner Sicht vor allem damit zu tun, dass wir aktuell nicht in ihr leben. Wir können aber diesen Spieß mit Beharrlichkeit umdrehen. Benutze ich nämlich Ich-Botschaften als eine Art von täglichem kleinen Ausflug in meine Ängste und damit als tägliche Impfung meines Stress- und Angstsystems, werde ich aktiv im Umgang mit meiner Angst. Ich schalte vom einem passiven in den aktiven Bewältigungsmodus meiner Gefühlen. Um uns darin zu üben, können wir in ruhigeren Bereichen unseres Lebens beginnen, wo nicht gerade der mächtigste Pulverdampf besteht. Ich offenbare mich auf diese Weise und begebe mich mutig in eine subjektiv verletzbar empfundene Position.
Ich lerne mich darüber allerdings auch besser kennen, ich mache mich mit mir "Selbst vertrauter" und erkenne als Nebeneffekt, auch vielleicht erst in kleinen Schritten, welche Ausdehnung mein Garten tatsächlich hat.
Ein Beispiel:
"Ich hatte seit 4 Wochen Kontakt zu einer Frau, die ich recht zufällig neu kennen gelernt hatte. Wir kamen sehr schnell in einen intensiven Austausch miteinander und es entwickelte sich langsam eine engere Beziehung. Wir verstanden uns gut, hatten zum Teil ähnliche Interessen und fanden uns offensichtlich beide anziehend. Nach ca. 4 Wochen gerieten wir plötzlich in einen heftigen Streit. Letztlich ging es nur um die Planung, wie wir unser Wochenende verbringen bzw. wann wir füreinander Zeit haben würden. Vielleicht war ich ein bisschen unentschieden oder auch noch hin- und hergerissen, weil sich auch ein Freund mit mir treffen wollte. Am Ende eskalierte unser Gespräch mit heftigen Vorwürfen und Entwertungen von ihrer Seite aus, die mich ratlos zurückließen. Normalerweise hätte ich mich an diesem Punkt zurückgezogen und gedacht: „Die blöde Kuh weiß sowieso nicht was, sie verpasst“. Es stand auf jeden Fall außer Frage, mich jetzt auf irgendeine Weise klein zu machen oder betteln zu gehen.
Ich hatte es während dieser ersten 4 Wochen unseres Kennenlernens eigentlich nie nötig gehabt, machohaft aufzutreten, wie es die längste Zeit meines Lebens Gewohnheit gewesen war. Aber in dieser Zwangslage kam das wieder durch. Ich benötigte volle 2 Tage, um wieder Klarheit zu finden.
Dann ging ich diese verfahrene Situation so an, wie ich das vorher in meinem neuen Job gelernt hatte. Ich rief sie an und bat um ein Gespräch. Und es gelang mir in dem Gespräch ausschließlich und durchgehend von mir zu sprechen. Jeder Satz begann mit „Ich“, ich beschrieb meine Gefühle, meine Verwirrtheit, meine Wünsche und auch das, was ich nicht wünschte. Es gelang mir, mich außerhalb meiner üblichen machohaften Attitüde „Entweder Du willst mich so, wie ich bin, oder lass´ es bleiben.“ zu stellen. Ich verspürte Angst in dieser Situation von Selbstoffenbarung, fühlte mich verletzlich und klein überhaupt nicht wie ein richtiger Mann. Ich zog das letztlich auch nur durch, weil mir diese Art von Kommunikation aus verzwickten beruflichen Situationen schon heraus geholfen hatte. Am Ende war ich verblüfft und überrascht, wie zugewandt meine Partnerin reagierte, ihrerseits sich selbst beschrieb, von sich sprach."
Ich erkenne zunehmend deutlicher, wieviel Müll und mühsam zu umfahrende Hindernisse in meinem Garten herumliegen. Und wie viele Umwege ich in meinem täglichen Leben absolviere. Ein erster Schritt, viele nicht gut funktionierende Strategien mutig zu unterlaufen besteht darin, ausschließlich von mir zu reden. Genau das mache ich mit Ich-Botschaften. Das mag simpel klingen und unvermeidlich schlechte Gefühle und solche Gedanken auslösen, wie zum Beispiel: "Das ist doch total egoistisch, nur noch von mir zu reden ".
Das beste ist daher, alles beharrlich auszuprobieren. Die konsequente Umsetzung dieses sprachlichen Prinzips ist anfänglich, wie bei jedem Training, holprig. Unser Gehirn wird nämlich nicht augenblicklich "Hurra" schreien können. Das – trügerische - Gefühl einer erfolgreichen Salve auf den Gegner bleibt ihm verwehrt. Die Belohnung "Hurra, Treffer, versenkt" gibt es in der Arbeit mit Selbstabgrenzung über Ich-Botschaften nicht. Wahrscheinlich winde ich mich in der Beschreibung meiner Selbstposition zunächst noch etwas.
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