Die Konversation im Raum war zum Erliegen gekommen, weil jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachhing. Wie ein seltsamer Bruch wirkte es da, als plötzlich Karl-Heinz gut gelaunt hereinstürmte: „Was ist hier denn los?“, fragte er verwirrt. „Ist jemand gestorben?“
„Gestorben wird immer.“, antwortete Horst lakonisch.
Das Thema wurde nicht weiter vertieft, denn mittlerweile war auch Herr Iring angekommen und bat um die werte Aufmerksamkeit für sein heutiges Programm. Er hatte ein Referat zu Joseph Roths „Hiob“ vorbereitet und plante einen nachfolgenden Gedankenaustausch. Während des Vortrages herrschte höfliches Schweigen; die ungeteilte Aufmerksamkeit war hingegen überwiegend geheuchelt. Anneliese sorgte sich um ihren Blutdruck, der trotz einer beträchtlichen Menge regulierender Medikamente noch immer erschreckend überhöht war und gerade jetzt spürte sie einen besonders unangenehmen Druck im Kopf. Hermann grübelte darüber nach, wen genau Charlotte des Gattenmordes bezichtigte und konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht hatte Rosemarie auch nur etwas aufgeschnappt und falsch interpretiert. Charlotte fixierte heimlich ihre Verdächtige. Sie malte sich aus, wie sie beim nächsten Treffen die Details ihrer erfolgreichen Detektivarbeit vor den anderen ausbreiten würde, während die Mörderin in der Untersuchungshaft darauf wartete, ihrer gerechten Strafe zugeführt zu werden. Günther träumte - wie jedes Mal - von romantischen Portwein-Stunden mit Irmgard und bewunderte das Objekt seiner Begierde unverhohlen und lächelnd. Irene saß auf heißen Kohlen, weil sie nicht sicher war, ob sie die Teebeutel für Herrn Iring schon aus der Kanne genommen hatte. Sie wollte nachsehen, sobald das Gespräch anfing und notfalls einen frischen Tee zubereiten. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie sich in diesem Maße verantwortlich fühlte, wo sie doch froh sein konnte, dass sie zu Hause von derlei Versorgungsleistungen seit drei Jahren verschont blieb. Irmgard überlegte angestrengt, ob sie den Werkzeugkoffer im Auto hatte, seit Wochen schon hatte sie vor, ihn montags nach dem Altenclub bei Klaus vorbeizubringen. Wenn sie noch länger wartete, würde der ihr nie wieder etwas leihen. Karl-Heinz fragte sich gerade, wie Irmgard wohl völlig entblätterte aussähe und wie sie sich unter der Bettdecke anfühlte. Renate konnte seit Charlottes Bemerkung in der Küche nur noch an ihren verstorbenen Erwin denken und fragte sich aufgeregt, ob irgendetwas an ihrem Verhalten so verdächtig erschien, dass Charlotte zu derartig ungeheuerlichen Schlussfolgerungen gelangte. Auch nur zwölf Stunden in Untersuchungshaft würde sie nicht überleben. Rosemarie träumte von ihrer Jugendliebe, einem jungen Mann, den sie ihr restliches Leben lang vermisst hatte, nachdem er einfach aus ihrem Leben verschwunden war. An ihren langjährigen Gatten, der seit zwei Jahren auf dem Friedhof lag, verschwendete sie keinen Gedanken und Herrn Irings Ausführungen konnte sie schon aufgrund der hohen Dichte an Fremdwörtern nicht folgen. Nur Horst hörte zu und fragte sich, wer von den Anwesenden sich in der literarischen Adaption der biblischen Geschichte am ehesten wiederfand.
Als Herr Iring abschließend um Gesprächsbeiträge bat, herrschte zunächst gespenstisches Schweigen. Irene, Charlotte, Irmgard und Rosemarie verließen nacheinander den Raum und Horst fragte sich, wer wohl gleich ermordet würde, doch sie kehrten alle vier wohlbehalten zurück. Horst gab auch als Einziger einen Gesprächsbeitrag zum Besten:
„Joseph Roth hat meines Erachtens nicht nur das weiße Feuer der Hiobsgeschichte zum Leuchten gebracht, indem er den vermeintlichen Nebenfiguren eine eigene Perspektive verliehen hat, er hat die Geschichte auch politisiert und sie auf die Situation des europäischen Judentums bezogen.“
„Von was für einem weißen Feuer redest du denn da?“, fragte Karl-Heinz unwirsch. „Hast du eben zu Hause noch einen genommen? Schönen Schluck Schlehenfeuer?“
„Midrasch.“, verkündete Herr Iring mit der wichtigtuerischen Miene des Connaisseurs.
„Ist das jüdischer Schnaps?“, fragte Karl-Heinz und schlug sich laut lachend auf die Schenkel.
„Nein.“, antwortete Herr Iring verschnupft. „Als Midrasch bezeichnet man das Lesen zwischen den Zeilen eines Textes. Die schwarzen Buchstaben, das unmissverständliche Wort auf dem weißen Papier bezeichnet man als das schwarze Feuer, aber das, was man in seiner Vorstellung dazu überlegen muss, die Ausschmückung der Geschichte, wie sich alles für die Beteiligten anfühlt, das bezeichnet man als das weiße Feuer. Das ist eine uralte jüdische Tradition, derer Joseph Roth, der ja ebenfalls jüdischer Herkunft war, sich möglicherweise bedient hat.“
„Wie sie eben bereits beschrieben hatten.“, erklärte Horst und sah Karl-Heinz strafend an, als er sich an ihn wandte: „Wenn du schon nicht zuhören kannst, solltest du dich beim Gespräch besser raushalten.“
„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, rechtfertigte Karl-Heinz sich. „Schließlich habe ich den Kuchen mitgebracht. Ich kann doch nicht an alles denken.“
Damit war das Stichwort gefallen, auf das alle gewartet hatten und man sprach über Primeln und wer gerade im Sterben lag, wo zur Zeit das günstigste Gemüse zu bekommen war und was die Kinder und Enkelkinder so trieben. Die Zeit verging wie im Flug und während die Küchencombo spülte, tratschten diejenigen, die sich nur schwer trennen konnten, noch eine Weile auf dem Vorplatz, bis schließlich Irene den Schlüssel umdrehte und alle mehr oder weniger dynamisch nach Hause humpelten. Von den schwarzen Gedanken, die die eine oder andere dabei im Herzen trug, ahnte niemand etwas.
Vierzehn Tage später sprach man davon, dass Charlotte mit dem Fahrrad gestürzt war, direkt nach dem Altenclub. Fatalerweise war sie aufgrund ihrer Eitelkeit ohne Helm gefahren und hatte nun infolge einer schweren zerebralen Blutung die Sprache verloren. Man verabredete sich, Charlotte in der nächsten Zeit regelmäßig im Krankenhaus zu besuchen. Zuerst war man unsicher gewesen, ob das überhaupt in ihrem Sinne sei, doch Hermann war selbst zum Altenclub geradelt und hatte den Anwesenden ans Herz gelegt, Charlotte bitte einen Besuch abzustatten.
Rosemarie hatte, als sie zu Hause ankam, schon wieder vergessen, in welchem Krankenhaus Charlotte lag. Irene war nicht gut auf Charlotte zu sprechen und Christenpflicht hin oder her, für die alte Gewitterhexe war ihr einfach ihre Zeit zu schade. Karl-Heinz ging es da ähnlich – Charlotte war kaum für einen scherzhaften Flirt geeignet gewesen, nicht einmal, als sie noch zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie hatte schon als Backfisch so einen verkniffenen Mund und diese eiskalten Augen gehabt.
Renate dagegen war die erste, die sich ins Krankenhaus schleppte. Sie verzichtete extra auf ihren Mittagsschlaf, damit sie Zeit hatte, sich vorher einer Stunde lang zurechtzumachen und dann pünktlich im 15.00 Uhr gepflegt und mit frischen Blumen im Krankenzimmer zu erscheinen. Sie hielt eine Weile Charlottes Hand und gab unerträgliche Gemeinplätze von sich und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als dies klaglos zu ertragen. Zwei Tage später schleppte Anneliese sich in die Klinik, brachte Blumen, drückte Charlottes Hand, sprach aber selbst kaum, denn ein Gespräch kam ja schwerlich zustande und so ging sie bald wieder. Günther war ein Mann von eingefleischtem Pflichtbewusstsein. Er brachte Charlotte eine rote Primel im Topf als Symbol für ihre baldige Genesung. Die Primel solle sie mit nach Hause nehmen. Auch Horst trieb das Mitgefühl ins Krankenhaus, obwohl er Charlotte ebenfalls nicht leiden konnte, aber so eine Lebenssituation wünschte man keinem. Weil er richtig vermutete, dass sie mit Blumen überschüttet wurde, kaufte er ein teures, duftendes Hautöl für sie, damit sie sich wenigstens eine angenehme sinnliche Erfahrung gönnen konnte. Auch Irmgard ließ sich blicken, mit Blumen und Pralinen und als sie Charlottes Krankenzimmer angespannt verließ, fragte sie sich, was wohl passierte, wenn Charlotte ihre Sprache wiederfände? Und selbst wenn sie nie wieder sprechen konnte: würde sie sich dennoch dezidiert mitteilen können? Wie konnte eine alte Frau von 79 Jahren einen so schweren Sturz überleben? Sie hätte die Radmutter noch stärker lösen müssen, dann wäre die Mitwisserin längst ausgeschaltet.
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