Er reichte ihr ein Notizblatt mit Datum, Uhrzeit und Zimmernummer. Ein Blick darauf zeigte ihr, dass sie am nächsten Tag um zehn Uhr diesen Termin hatte. Dr. Trothe war schon aufgestanden und streckte ihr die Hand hin.
„Wir kriegen das wieder hin, Fräulein Wessling. Nur Zuversicht!“
Und dann stand sie etwas verdattert und wenig zuversichtlich wieder auf dem Flur. Ratlos schaute sie sich um und beschloss dann zu dem Zimmer zu gehen, dessen Nummer er ihr gegeben hatte. Auf diese Weise konnte sie vielleicht schon einen Teil des riesigen Gebäudekomplexes kennen lernen.
Auf dem Weg dahin begegnete sie Gabi, die ihr im Gesellschaftsraum schon aufgefallen war, ein hübsches, aber unglaublich dünnes Mädchen.
„Ich begleite dich gerne“, meinte sie munter. „Wenn du Lust hast, kann ich dir anschließend einiges von dem Haus zeigen.“
Gerne nahm Olga dieses Angebot an und fühlte sich plötzlich viel wohler. Mit Gabi verstand sie sich auf Anhieb gut und so folgte sie ihr durch Gänge, Treppenhäuser, unterschiedliche Räumlichkeiten, bis ihr der Kopf rauchte.
„Das wird wohl einige Zeit dauern, bis ich mich hier zurechtfinde“, seufzte sie schließlich. „Es war auf jeden Fall sehr hilfreich, dass du mir schon Einiges gezeigt hast.“
„Du kannst mich jederzeit fragen, wenn du etwas nicht weißt. Ich bin inzwischen schon vier Wochen da. Und wahrscheinlich werde ich so bald nicht entlassen.“
„Wieso das denn?“
„Ich habe noch nicht genug zugenommen. So lassen sie mich nicht gehen.“
„Hast du Schwierigkeiten mit dem Zunehmen? So ein Problem kenne ich gar nicht. Ich würde immer gerne abnehmen.“
Gabi warf ihr einen belustigten Blick zu.„Ich bin magersüchtig. Nun suchen sie die Ursache und versuchen mich mit Astronautenkost wieder aufzupäppeln. Aber ich bin nicht die Einzige hier. Ganz viele leiden unter dieser Krankheit. Diese Klinik ist prädestiniert dafür und kann wohl einige Erfolge aufweisen.“
Jetzt fielen Olga mehrere junge Frauen ein, die sie am Vormittag gesehen und deren zarte Gestalten sie bewundert hatte. Dass es sich dabei um eine Krankheit handeln könnte – nein, auf diese Idee wäre sie nie gekommen!
„Und – also ich bin etwas unsicher – was für Krankheiten gibt es sonst noch hier?“
„Ach, jede Menge. Es ist halt sehr schwierig, die Ursachen von gewissen Verhaltensmustern herauszufinden. Das ist bei jedem anders. Du kennst doch sicherlich den Grund, wieso du hier gelandet bist.“
„Das schon, obwohl mir nicht ganz klar ist, wie man das wieder in Ordnung bringen kann.“
„Heute Abend ist Abschiedsparty bei Elfi“, wechselte Gabi das Thema. „Kommst du auch?“
„Ich bin doch gar nicht eingeladen! Überhaupt – wer ist Elfi?“
„Eine, die es geschafft hat. Sie wird morgen entlassen. Und eingeladen ist jeder, der Lust hat.“
„Ach so? Ja, dann komme ich gerne.“
Als Olga gegen sechs Uhr zum Abendbrot Richtung Speisesaal ging, drängte sich wieder Tolgas Bild vor ihre Augen. Ob sie ihn wohl gleich sehen würde? Ungehalten schüttelte sie den Gedanken ab. Was war nur mit ihr los?
Er war da, aber er servierte abermals an anderen Tischen. Leni war für ihren Tisch zuständig und verstärkte bei Olga noch den Eindruck eines albernen Hühnchens. Auch Ali wuselte im Speisesaal herum, während Frau Schmitz von einer Art Theke das Geschehen aufmerksam beobachtete. Ganz wie Gunther gesagt hatte überließ sie die Arbeit ihren jungen Mitarbeitern.
Nach dem Essen blieb Gabi bei ihr am Tisch stehen.
„Ich hole dich um halb acht ab“, raunte sie ihr zu, bevor sie hinauseilte.
„Schon netten Kontakt gefunden?“ fragte Gunther.
„Ja, sie ist sehr nett. Heute Abend ist eine Abschiedsfeier, zu der sie mich mitnehmen will.“
„Tja, dann genieße den Abend. Auf diese Weise lernst du gleich eine Menge Leute kennen. Vielleicht sogar einen netten Mann? Es haben schon manche ihre späteren Partner hier kennen gelernt.“
Frau Haug schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Das ist keine besonders gute Basis für eine gemeinsame Zukunft“, gab sie zu bedenken, und komischerweise fiel Olga gleich wieder Georg ein.
Gabi holte sie sehr pünktlich ab und sie gingen gemeinsam zu einem Zimmer, das genauso aussah wie das von Olga, allerdings mit zwei Betten und einer Unmenge junger fröhlicher Leute.
„Hier geht es wirklich munter zu“, dachte Olga so für sich. „Ein wahrhaft angenehmer Einstieg in einen Klinikaufenthalt!“
Nach einem sehr vergnüglichen Abend begann der nächste Tag dann mit ihrem Termin bei Frau Nagel. Sie fand sich pünktlich ein. Die Tür zu dem Zimmer stand offen und sie klopfte daran, nachdem sie festgestellt hatte, dass Frau Nagel sich am Schreibtisch schon in einige Schriftstücke vertieft hatte. Beim Klopfen schaute sie kurz auf und kam Olga dann entgegen.
„Guten Morgen. Fräulein Wessling, nehme ich an?“
„Guten Morgen, Frau Nagel. Herr Trothe sagte mir, dass Sie die Behandlung weiterführen.“
„Ja, genau. Nehmen Sie doch Platz!“
Sie deutete auf die gemütliche kleine Sitzecke mit drei Cocktailsesseln, wartete, bis Olga sich in einem niedergelassen hatte und setzte sich ganz entspannt und ohne etwas zu sagen ihr gegenüber, den Blick auf einen Punkt gerichtet, der irgendwo über Olgas Kopf sein musste. Olga schaute sie etwas befremdet an und wartete auf irgendeine Frage oder Erklärung, aber nichts geschah. Frau Nagel schwieg einfach vor sich hin. Nach einiger Zeit nahm sie sich eine Zigarette und zündete sie an. Schließlich wurde Olga das Schweigen zu viel. Irgendetwas musste sie wohl von sich geben.
„Doktor Trothe sagte mir, Sie wären für die Einzelgespräche zuständig und würden mir erklären, wie es mit den Gruppentherapien abläuft.“
Frau Nagel stieß den Rauch aus und nickte. „Ja.“ Dann schwieg sie weiter.
Langsam fand Olga das Ganze albern und fühlte sich auf den Arm genommen.
„Ich habe so eine Behandlung noch nie gemacht“, erklärte sie unruhig. „Deshalb weiß ich nicht, wie so etwas abläuft. Wie wollen Sie mir weiterhelfen?“
Jetzt schaute Frau Nagel sie wenigstens an.
„Ich dachte schon, Sie wollen die ganze Stunde vergehen lassen, ohne etwas zu sagen. Das ist verlorene Zeit. Sie haben mir doch sicher etwas zu erzählen?“
„Warum ich mich an Doktor Trothe gewandt habe wissen Sie doch sicherlich…“
„Sie haben sich mir gegenüber dazu noch nicht geäußert. Erzählen Sie mir davon.“
Also fing Olga noch einmal von vorne an, erzählte abermals von diesem schrecklichen Tag, als sie voller Panik aus ihrer Wohnung gestürzt war. Doch es dauerte nicht lange, da schaute Frau Nagel auf die Uhr und meinte:
„Oh, die Stunde ist schon um. Ich denke, wir belassen es erst einmal bei den Einzelgesprächen und beginnen frühestens nächste Woche mit Gruppentherapie. Kommen Sie morgen wieder um dieselbe Zeit.“
Ziemlich verdattert stand Olga anschließend vor dem Sprechzimmer. Was hatte diese Aktion gebracht? Vor allem – wie sollte ihr so etwas helfen? Unzufrieden, aber auch zutiefst verunsichert schlenderte sie durch den Gang zurück. Da kam ihr Georg entgegen.
„Hallo“, grüßte er sie munter. „Hattest du heute schon ein Gespräch?“
Obwohl sie ihm immer noch nicht übermäßig viel Sympathie entgegenbrachte war sie doch froh, mit jemandem über dieses besondere Erlebnis sprechen zu können.
„Das ist die Methode, nach der hier gearbeitet wird“, erklärte er ihr ernsthaft. „Der Patient soll alles von sich erzählen, dabei seine eigenen Fehler erkennen und sich letztlich selbst heilen.“
„Und das funktioniert?“ fragte Olga zweifelnd.
„Wahrscheinlich schon. Sonst hätten sie hier längst dichtmachen müssen. Aber sag mal, wie hat dir der gestrige Abend gefallen?“
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