„Wieso Port?“, fragt Zett.
„Der Zyklus hat neun Bilder. Das Achteck acht Ecken. Durch jede Ecke kommen wir aus unserem Bild in eins der übrigen acht Bilder. Nenn es von mir aus Mnemotechnik. Ich teile mir die Welt halt geometrisch ein!“
„Jaja – auf gerader Linie in den Tod! Und ich muss das mit ansehen!“
Zett würde jetzt sehr gern entspannen. Schon wieder wird ihm unbehaglich, kribblig, nähert sich jener Zustand, den er am meisten fürchtet unter all seinen derzeitigen Zuständen. Am schlimmsten ist gar nicht die Dauerspannung, die kein Loslassen mehr kennt. Am schlimmsten ist die falsche Sorte Entspannung, die ihn mit einem dröhnenden, den ganzen Körper erfassenden Strom an den Boden schweißt, als flösse das Leben heraus. Aber so weit ist er heute noch nicht.
In der Apotheose sieht Ursula einfach nur blöd aus. Carpaccio hat sie in fades Blau gekleidet, das gar nichts mehr mit dem Himmelblau des Rombildes gemein hat.
Oder? Zett überlegt: Wie sieht hellblauer Atlas aus, wenn er mit Blut durchsuppt ist?
Über der Brust faltet sie die Hände. Der Maler verhüllt ihre Kontur mit steifem schwarzgoldenem Brokat, sodass über etwaige prä- oder postnatale Zustände keinerlei Aussage mehr zu treffen ist. Ursula steht auf einem Gestrüpp aus angeblich elftausend Palmwedeln, das unten am Strunk von einem doppelten Ring winziger Cherubim gebunden wird, plumpen lila Schmetterlingen, die wie ein Polizeikordon den Weg der toten Seelen in den Himmel sichern. Güldenes Licht umwabert Ursulas Gestalt auf dem Gestrüppplateau. Wölkchen rings um den güldenen Schein. Rings um die Wölkchen flattern Putti – die müssen dann ja wohl Seraphim sein, wenn die violette Sippschaft am Strunk Cherubim darstellt. Insgesamt bemüht man sich, Ursula zwischen zwei Fahnen empor zu hieven, in Rauschebarts weit geöffnete Arme.
Rings um die Strünke der Märtyrerpalmen knien sie alle. Eine niedliche Stupsnasige, eine vulgäre Beterin mit gotisch gefalteten Patschhändchen. Der falsche Papst, von dem nur die Augenpartie unter der Tiara sichtbar bleibt inmitten des Gewühls. Ein paar Mitglieder der Stifterfamilie Loredan, deren eines im Bildhintergrund das belagerte Skutari gegen die Türken verteidigt. Und schließlich die Besondere – die mit den langen Oberschenkeln. Da hat der Willem Cloerkes was verpasst! Das Gewand umschmeichelt die endlose Strecke von den Knien bis zur Hüfte. Ihre feingliedrige Hand streichelt den Palmenstrunk. Ihr zartes Gesicht schmiegt sie, wie verliebt in das Martyrium, an die Laibung, wo sich elftausend Palmwedel auffächern.
Der Chronologie nach ist sie tot, denn das Massaker hat ja schon im vorigen Bild stattgefunden. Aber wie diese schöne junge Frau, die in ihrem Leben alles hätte haben können, sich an das raschelnde Gestrüpp aus Stechpalmen schmiegt und ihre Wange am scharfen Teufelskraut blutig schneidet, das verstärkt in Zett jenes sattsam bekannte Kribbeln.
„Mach das nicht, Mädchen, hörst du! Verliebe dich nicht in den Tod! Nimm die Finger vom Grün und lass Ursula gen Himmel fahren. Hock nicht auf den Fersen, hörst du, krieg den Arsch hoch, dann bist du größer als die anderen. Die Loredan sorgen schon für sich selber. Den Papst gibt es gar nicht. Also nimm die kleine Stupsnase bei der Hand, lass die übrigen elftausend verzückten Kühe weiter von ihrer mystischen Vereinigung mit dem Rauschebart träumen und macht, dass ihr Land gewinnt! Im Hintergrund jagen die Türken. Die haben Skutari wieder mal nicht erobert. Jetzt wollen sie wenigstens Beute, Vieh und Frauen. Raus aus dem Bild, macht endlich voran, sonst endet ihr als Kollateralschaden!
Nun dröhnt es schon bedenklich im Kopf. Zett riecht den Dieselgestank von Panzermotoren. Ohne an Cloerkes’ Achteck einen Gedanken zu verschwenden, tut er einen Schritt zurück und steht nun im vorletzten Bild, wo er im Hinblick auf sein persönliches Wohlbefinden besser nicht stünde. Hier wird es ernst.
Todernst wird es im vorletzten Bild, mit dem Zett nicht mehr zurande kommt. Rechts des Fahnenmastes tragen sie Ursula auf einer Bahre davon – Kopfkissen und Decken erinnern an ihr träumerisches Doppelbett. Links geht es richtig zur Sache unter Fanfarengeschmetter. Wozu waren all die Kriegsübungen gut? Die Manöver? Schwärmt aus, bildet eine Linie, formt ein Karree, das ganze taktisch ausgebuffte Vor und Zurück, das die Hunnen doch angeblich so fürchten? Hier knien und stehen, hier fallen die Elftausend ohne den Hauch einer Chance, ganz ohne Gegenwehr. Hier wird nicht fair gekämpft, sondern massakriert – ein widerliches Schlachtfest. Der türkische Bogen des angeblichen Hunnen ist bis aufs äußerste gespannt. Der Pfeil zielt auf die kniende Ursula. Wenn Zett jetzt eingreift, trifft der Pfeil jemand anders – und schon steckt er in Ursulas Herz. So wehrlos. So über alle Maßen unfair! Haben diese Menschen wirklich ihr Schicksal frei gewählt, oder liegt all dem eine ganz andere, noch zu ermittelnde Geschichte zugrunde?
Zett tobt durch das Bild, bricht einem der Schlächter die Nase – gleichwohl fährt dem Papst dessen Kurzschwert durch den Hals. Nicht die Spur von militärischem Training! Hilflos blökende Lämmer. Dem Kardinal durchbohrt ein Armbrustbolzen die Wange, wenigstens nicht die Stirn, weil nämlich Zett dem Schützen in die Weichteile getreten hat. Gleichwohl ist die Wunde tödlich. Klumpig pladdert das Blut zu Boden. Sein süßer Eisengestank mischt sich mit dem, was Menschen im Tod und in Todesangst sonst noch unter sich lassen. Äxte und Schwerter werden geschwungen. Das Pochen, das Knirschen und Schmatzen beim Spalten der Schädel. Durchschnittene Hälse, Blut spritzt wie aus einem verkalkten Duschkopf. Pulverdampf. Dieselabgase. Schluchzende Menschen, am Haar unter tödliches Eisen gezerrt, während MG-Feuer ... überall kommt Zett zu spät. Er rettet keine einzige. Gemäß der Logik des Bilderzyklus bricht auch die Stupsnase zusammen, die Hochbeinige – welch obszöne Verschwendung von Leben! Dazu dirigiert Attila höchstpersönlich, rotgolden gepanzert, mit dem Reiterhammer seine Militärkapelle, scheppert serbischer Rechtsrock aus dem Lautsprecher...
Und das war’s dann! Taumelnd floh Zett aus den Bildern und sank auf das harte Lederpolster ohne Rücken- oder Seitenlehne, weshalb er hintenüber kippte und an die Decke starrte, als er zur Besinnung kam. Wie üblich bot der Himmel keine Antworten.
Zett stolperte durch das Museum, rempelte, ohne es zu wollen, Leute an, fiel peinlich auf, sodass ihm Rausschmiss drohte, Hausverbot, das vorzeitige unrühmliche Ende seines Auftrags. Aber er war nicht mehr Herr seiner selbst. Sinn und Kraft flossen aus ihm heraus, wie durch ein riesiges Leck in einem der vielen Schiffe des Zyklus’...
Falsches Bild: Durch ein Schiffsleck strömt Wasser herein, nicht hinaus. Nicht einmal mehr die simpelste Metapher bekam er hin!
Mit knapper Not gelangte er ins Freie und nahm Venedigs Brücken, die Gassen und Rivas, die Calle und Campi unter die Füße. Nicht, dass er gerannt wäre oder sich auch nur beeilt hätte. Doch endlose Stunden hindurch hielt er auch nicht mehr an.
Carpaccio malte Hunnen, meinte aber Türken, was letztlich ganz egal war, denn am Ende waren alle Hauptdarstellerinnen tot. Von den Anschlägen, die in Istanbul das britische Konsulat und die HSBC-Niederlassung trafen, merkte Zett nichts, während er auf nackten Füßen, Schuhe und Socken in der Hand, über die Riva degli Schiavoni schlurfte und fast bis zur Bettschwere gewandert war. Überhaupt merkte er wenig, sah den wahren Auftrag hinter dem Tarnnetz aus Bildern nicht und schon gar nicht Bucholtz’ zähe Diplomatie, gegen die in Istanbul erfolglos angebombt wurde.
Zett wusste nur, dass diese Bilder es ihm nicht leicht machten. In kurzen Pausen trainierte er mit dem Prachtband, kämpfte sich mühsam durch das Gekritzel über eine große Theateraufführung mit lauter Hunnen, merkte wohl, dass er es übertrieb, kam aber nicht dagegen an, denn er fühlte sich herausgefordert über jedes erträgliche Maß.
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