1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Eines Tages, viele Jahre, bevor er Zett begegnete, hatte Cloerkes sich dann ein Mal zu oft über das kunsthistorische Establishment geärgert und selbst zu schreiben begonnen, schmale, um Lesbarkeit bemühte Büchlein, die mit der Zeit immer ansehnlichere Auflagen erzielten. Insgesamt zwanzig Bände. An den letzten Sieben hatte Zett auf diese oder jene Weise mitgewirkt. Man hockte sowieso ständig beisammen. Da ergab sich das von selbst. Bei den letzten vier Büchern hatte Cloerkes ihn verdientermaßen als Co-Autor mit auf den Titel genommen. Heute litt Zett wie ein Hund, weil er aus seiner neuen Identität heraus nicht mehr an die Tantiemen herankam. Die flossen jetzt, weil der verstorbene Herr Zottnow weder Frau, noch Kind oder Geschwister gehabt hatte, auch beide Eltern tot waren, ausgerechnet an seinen fast hundertjährigen steinreichen Bankiersopa Ruffy in der Schweiz. Ein Treppenwitz, über den Cloerkes sich kaputt gelacht hätte.
Willem hatte in Kunstdingen über eine profunde Bildung verfügt. Trotzdem kam die Vulgärversion seiner Methode ihrem Geheimnis am nächsten: „Vergiss den Schulquatsch, mein Junge“, hatte er doziert, als sie sich noch gar nicht lange kannten, „den ziehst du locker aus dem Ärmel, sobald du ihn brauchst. Aber zuerst schau hin, schau tief hinein und halte Einzug in das Bild wie sein rechtmäßiger Bewohner. Mische dich unter deine angestammte Nachbarschaft, mach mit, was das Zeug hält! Umgarne sie oder spuck ihnen ins Gesicht. Hasse und liebe, lache und weine, friss und saufe mit ihnen! Riskier ein Tänzchen mit der schönen Helena! Träufle dem Gekreuzigten linderndes Opium auf die Lippen! Du glaubst nicht, was die Bilder dann alles erzählen!“
Zett drehte sich einmal um die eigene Achse und sah insgesamt neun große Formate, zwischen 1490 und 1495 gemalt. Allerdings hingen sie nicht in der Reihenfolge ihres Entstehens, sondern in erzählerischer Abfolge, von der Brautwerbung bis zum Massaker und zur Apotheose Ursulas.
Die englischen Botschafter bei der Brautwerbung. König Maurus und seine Kronräte empfangen sie im offenen, licht- und luftdurchfluteten Hafenpavillon. Im Gemach gleich nebenan spricht Ursula mit ihrem Vater. Gleichzeitigkeit verschiedener Erzählstränge und Episoden ist das gestaltende Prinzip des Zyklus’.
Verabschiedung der Werber. Im denkbar repräsentativsten Thronsaal überreicht Maurus dem englischen Botschafter die diplomatische Note mit seiner Antwort. Der Hofchronist schreibt im Hintergrund mit, während das Volk zur offenen Tür hereinschaut.
Rückkehr der Werber nach England. Hier ist der Hafenpavillon nicht ganz so prächtig wie bei Maurus. Auch könnte der englische König durchaus mal Unkraut zupfen lassen. Am anderen Kanalufer jedoch, zugänglich über eine venezianische Brücke, wirkt alles sehr proper: Türme, ein dreistöckiger Palast und ummauerte Gärten bilden den Hintergrund, in dem es von Publikum nur so wimmelt. Der kostbar gewandete Mann im äußersten Vordergrund, dessen Blickrichtung die Mittelachse des Bildes definiert, während er frech dem Betrachter den Rücken zuwendet, muss etwas zu bedeuten haben. Unbedingt!
Aufbruch der Brautleute zur Pilgerfahrt. Das Bild mit den meisten Zeitebenen. Ursulas Bräutigam Ätherius wird von seinem englischen Vater verabschiedet – vor einer Hügellandschaft mit zwei mittelalterlichen Festungstürmen. Am selben Hafenbecken begrüßen sich die Brautleute zum allerersten Mal. Am selben Hafenbecken werden sie von Ursulas Eltern auch gleich wieder verabschiedet und schiffen sich ein – vor dem Hintergrund eleganter venezianischer Architektur. Und aus demselben Hafenbecken läuft schließlich ihr Schiff zur Pilgerfahrt aus.
Ursulas Traum. Ein Doppelbett mit Baldachin. Ursula träumt in Rückenlage. Durch Fenster und zwei Türen dringt der helle Tag herein, und mit ihm kommt der Engel der Weissagung.
Die Pilger in Rom. Zu Füßen der Engelsburg begegnen sich unter stürmischem Himmel zwei lange Menschenreihen: Der Zug der elftausend Jungfrauen, an seiner Spitze Ursula mit Ätherius. Und ein Zug von Klerikern, an dessen Spitze der eigens für die Legende erfundene Papst Cyriacus schreitet.
Ankunft im belagerten Köln. Die Stadt liegt hinter mittelalterlichen Festungsmauern, über denen ein venezianischer Campanile aufragt. Davor zelten die hunnischen Belagerer. Ihrem König wird gerade das Warnschreiben aus Rom vorgelesen, während Ursulas Schiffe am Rheinufer vor Anker gehen – unbekümmert durch die bedrohliche Szenerie.
Das Massaker. Links wird gemordet. Rechts zu Grabe getragen. Im Hintergrund Skutari von den Türken belagert.
Ursulas Himmelfahrt. Über dem Gedrängel kniender weiblicher und männlicher Märtyrer fährt Ursula gen Himmel – in die weit geöffneten Arme des Rauschebartes. Vorbei an der immer noch dauernden Belagerung Skutaris durch die Türken.
Was hatte Bucholtz ihm gestern aufgetragen? Nutze meine Notizen! Schreibe die Einleitung für den Prachtband über kriegerische Jungfrauen – Attila und Venedig – Hunnen – Pfeile – Agrippa – Spiegelungen – Türme...
Schön, Türme gab es reichlich, zum Beispiel in der Rückkehr der Werber nach England. Da behauptete der Museumskatalog frech, die Türme gehörten zu Venedigs Arsenal – obwohl man sich in kaum zwei Kilometern Luftlinie bequem vom Gegenteil überzeugen konnte. Nicht mal mit den Kupferstichen Jacopo de Barberis im Hinterkopf ließ sich Übereinstimmung herbei fantasieren.
„Schulquatsch“, hänselte Cloerkes.
Naja, im selben Katalog hieß es auch, Jacopo de Voragines »Legenda Aurea« stammten von 1475, offenbar im gänzlich überflüssigen Bemühen, Zusammenhänge zwischen Carpaccios Literaturrezeption und seiner Motivwahl herzustellen. Wobei man großzügig Voragines Todesdatum im Jahr 1298 übersah. Solcher Art war der Stoff, aus dem sich Cloerkes’ Verachtung für das Establishment speiste.
Nachdem Zett sich ein paar Mal um die eigene Achse gedreht hatte, meldete sich das Teufelsgebräu aus der chemischen Disco zurück. Heftiger Schwindel. Zett suchte den Druckpunkt am Nagelbett des kleinen Fingers, dessen Massage den Kreislauf in Schwung hielt. Akupressur half manchmal sogar im Krieg. In Bosnien hatte Zett die Blutfontäne aus einer zerschossenen Arterie gesehen, und der Sanitäter brauchte nur...
„Vergiss den Schulquatsch“, rief Cloerkes. „Misch dich unters Volk!“
Neben dem offenen Gittertürchen im Vordergrund stand ein junger Page. Der hatte schon in der Scuola di Sant’Orsola dort gestanden, bevor man an ebendieser Stelle eine Tür benötigte und den Ärmsten unterhalb seiner Schultern absägte. „Lass mich mal rein, Söhnchen“, drängelte Cloerkes taktlos, „kannst ja eh nichts anfangen mit all den Schönheiten hier, als Page ohne Unterleib.“
Zett atmet ein, dann sehr tief aus. Dann schnuppert er Meer und nassen Hund. Das Windspiel tollt vom Hafenbecken heran und schüttelt Wasser aus seinem Fell, spritzt seinen Herrn nass und dessen Verhandlungspartner. Doch Herrchen feilscht erbittert um die Differenz zwischen einem Ballen chinesischer Tributseide und zehn Unzen Weihrauch, ohne Notiz zu nehmen von der muffigen Dusche, von Zett oder dem hoch zeremoniellen Empfang der Botschafter im Vordergrund: Die Briten wollen Ursula als Braut für ihren Thronfolger.
Derweil gleitet ein Boot mit prallem Lateinersegel in den Hafen, wo das behäbigere Schiff der Diplomaten schon sicher beim Fahnenmast vertäut liegt. Nur – ankert da eine Karacke oder eine Cocha? Zett beschattet die Augen gegen das bleigrau stechende Mittagslicht: Einmaster jedenfalls, Segel gerefft und über dem galeerentypischen Heckkastell mit Laterne das Verdeck aus purpurnem Tuch.
Hunde, wohin man blickt – der nasse Stinker, das angeleinte Windspiel links – Windspiele müssen groß in Mode sein am Hof von König Maurus. Nur die Jungfrauen machen sich rar, abgesehen von Ursula selbst, die rechts im Bild dem deprimierten Vater ihre Vision schildert. Ein blasser Backfisch, eher rührend als schön. Die Magd auf der Treppe vor dem Gemach so schön, wie eine fünfzigjährige Frau mit Krückstock eben sein kann. Dementsprechend ist Cloerkes längst weiter, während Zett sich dem Handwerkszeug seines Berufes widmet.
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