Dabei war die Ausübung eines halbwegs ernsthaften Berufes, wie den eines Bausparberaters, gar nicht vorgesehen, jedenfalls nicht von mir selbst. Lange Zeit fühlte ich eine ausgeprägte musikalische Ader in mir und hatte mehr eine Karriere auf Bühnen als in Wohnzimmern im Kopf. Rockmusik war mein Thema schlechthin, Gitarrist einer Rockgruppe im Speziellen. Meinem ersten Auftritt durfte meine Mutter schon beiwohnen, als ich noch mein kleines Zimmer im Dachgeschoss unseres Reihenhauses in Horn hatte. Sie machte sich, wie sie mir später erzählte, zum ersten Mal ernsthafte Gedanken um meine psychische Disposition, nachdem sie mich unfreiwillig dabei ertappte, wie ich mit dem Chromrohr ihres Staubsaugers auf den Knien Jimmy Page’s Gitarrensolo in Stairways to heaven mitspielte. Angeblich hatte ich sie an den Rand der Ohnmacht gebracht, allerdings nicht vor Begeisterung, wie die meist weiblichen Fans, die in meinem Traum direkt vor mir an der Bühne klebten, sondern, weil ich eine riesige Schramme in der Tür des Schleiflackschrankes hinterlassen hatte. Gut achtzehn Jahre später fegte ich unter ähnlichen Umständen, es war ebenfalls mit einem Staubsaugerrohr und diesmal bei einem Gitarrensolo von Mark Knopfler , Carlas thailändischen Holzbuddha aus dem Wohnzimmerregal. Einer der bedeutungsvollen, aufrecht gestellten Finger war abgebrochen und leitete eine einwöchige Ehekrise zwischen uns ein.
Obwohl ich gerade einmal eine Gitarre von einer Geige unterscheiden konnte und nicht einen einzigen Griff beherrschte, war mein erstes Instrument gleich eine Strom-Gitarre. Klotzen statt kleckern. Ich hatte sie einem entfernten Bekannten für 175 Mark abgekauft, der sie zwei Jahre lang nicht loswurde und sich riesig über dieses unverhoffte Geschäft freute. Vor dem Spiegel im Flur sah ich blendend aus. Nachdem ich das alte Röhrenradio meiner Eltern mit den ersten brachialen Gitarrenanschlägen in Elektroschrott umgewandelt hatte, kaufte ich mir von meinem kargen Lehrlingslohn eine einfache Verstärkeranlage und begann unter Anleitung eines Freundes die ersten Griffe zu erlernen. Fortschritte stellten sich nur mühsam ein, nur langsam lernte ich dazu, auch weil ich zu faul war, um zu üben.
Den Grundstein meiner Musikerkarriere wollte ich ein paar Jahre später auf einem Bauernhof nördlich von Bremen legen. Wir starteten dort unser erstes Bandprojekt: Zwei Gitarristen, ein Bassist und ein Schlagzeuger. Erwähnenswert ist, dass ich nicht einer der beiden Gitarristen war, weil ich zwischenzeitlich das Instrument gewechselt hatte. Statt der Gitarre war es jetzt das Schlagzeug. Man könnte dies als rein pragmatische Entscheidung aus Kostengründen sehen, schließlich kostete ein Marshall -Verstärker mit zugehörigem Boxenturm ein Vermögen. Grund der Umstellung war jedoch, dass ich meine Gitarre nie annähernd beherrschte oder anders ausgedrückt, außer einer Handvoll Griffen nichts weiter zustande brachte. Obendrein waren mir Akkorde oder Harmonien bis dahin so fremd wie chinesische Schriftzeichen.
Dafür entdeckte ich ein Gefühl für Rhythmus und glaubte bald, für das Trommeln geboren zu sein. Mein erstes Schlagzeug stöberte ich in einem Bremer Instrumentenladen auf. Es war preiswert und bestand aus vielen Teilen, unter anderem zwei Hängetoms und drei Becken. Leider klang es wie ein Set aus leeren dänischen Keksdosen, was ich erst relativ spät wahrnahm. Ich brauchte also ein neues Instrument. Dieses kaufte ich im Musikinstrumentenladen an der Hamburger Reeperbahn und hatte für die nächsten drei Monate keine einzige Mark mehr zur eigenen Verfügung. Natürlich hatte ich diesmal zwei sachverständige Freunde mit dabei. Diesmal sollte nichts schiefgehen. Bis zur Rückfahrt nach Bremen, ich hatte mir den Opel Rekord Caravan meines Vaters für den Transport geliehen, war es auch so. Leider endete sie in Höhe des Grundbergsees. Wir hatten so intensiv über das neue Instrument diskutiert, dass ich vollständig vergas, dass das Auto auch einen vierten Gang besaß. Meine schon exorbitant hohe Rechnung für das Schlagzeug wurde noch einmal um 600 Mark für einen gerissenen Kühler und eine defekte Zylinderkopfdichtung plus Abschleppgebühren erhöht.
Unser Sound auf dem Bauernhof war eigenwillig, einige unserer intensivsten Kritiker behaupteten, unerträglich. Wir spielten Eigenkompositionen und bekannte Stücke, die nur wenige Harmonien hatten, dafür aber irre lang waren, wie beispielsweise Evil Woman von Spooky Tooth oder In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly . Fehlende musikalische Kompetenz kompensierten wir durch Lautstärke und verschlissen eine Unmenge an Sicherungen für unsere Verstärker. Die schwarzweißen Holsteiner Kühe auf der angrenzenden Weide jedenfalls, eigentlich ganz zutrauliche Tiere, wirkten nach unseren Übungssequenzen immer leicht verstört und verzogen sich meistens, insbesondere wenn wir uns an unseren Eigenkompositionen probierten, in die hinterste Ecke der Weide zurück. Dort warteten sie, ähnlich wie bei einem Unwetter, bis sich der Donner verzogen hatte.
»Guten Morgen, Simon«, flötete Martina am Empfang, als ich kurz vor neun Uhr durch das in petrol-weiß und mit der monumentalen Grafik zweier nebeneinanderstehender Weinflaschen drapierte Foyer unserer Bausparkasse stapfte.
»Morgen Tina, wie geht es dir?«
Ich ging zu ihr an den Empfangstresen. Der Blick in ihr wie immer tief ausgeschnittenes Dekolleté mit den beiden gepuschten Kugeln hatte für mich stets einen Hallo-Wach-Effekt. Heute hatte sie noch etwas Glitzerpuder aufgetragen.
»Und was hat die letzte Nacht gebracht?«, fragte ich süffisant.
»Ach, Simon, in der Woche läuft doch nicht viel. Nach dem Fitness-Studio noch ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett.« Ich war mir bis zuletzt nicht schlüssig, was mich mehr faszinierte, ihre Schönheit oder ihre Dämlichkeit.
»Na, vielleicht können wir ja mal zusammen einen Cocktail trinken gehen«, sagte ich. Mir fiel die Weihnachtsfeier vor zwei Jahren ein. Es war weniger die Feier selbst als mehr unsere Nummer auf der Rückbank ihres Audi A3 inmitten eines gigantischen Schneetreibens. Seit diesem denkwürdigen Tag spürte ich auch meine Rückenschmerzen am sechsten Lendenwirbel wieder, die ich längst glaubte, überwunden zu haben.
»Sehr gern Simon«, säuselte sie, »sag’ nur Bescheid.«
Meine Uhr zeigte zehn nach neun. Ich zuckte zusammen und setzte mich mit einem gezwungenen Lächeln in Bewegung. Unsere heutige Teamsitzung war um 9:00 Uhr angesetzt. Dass es meine letzte werden würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Alle sieben Bereichsleiter, darunter drei Frauen, saßen am lang gezogenen Buchentisch mit Chrombeinen und blätterten geschäftsmäßig in ihren Akten, als ich den holzgetäfelten Sitzungssaal betrat. Ich verfluchte Carlas Warmwasseraktion am Morgen zum zweiten Mal.
»Guten Morgen, Herr Lüdenscheidt, wir sind wohl ein wenig spät«, sagte Köhler ironisch und blickte mich halb vorwurfsvoll, halb mitleidsvoll an. »Ich hatte mich schon schweren Herzens mit dem Umstand abgefunden, heute auf Sie verzichten zu müssen.«
Sehr gerne du dämliches Sackgesicht, dachte ich und ging wortlos zu meinem Platz. Die anderen lächelten in sich hinein. Burghardt Köhler war seit sieben Monaten mein Chef. Kam irgendwo aus Westfalen und war arrogant, machtgierig und hinterfurzig, was ich als eine äußerst problematische Kombination ansah.
»Vielleicht können Sie uns einmal den Grund schildern, warum Sie uns geschlagene fünfzehn Minuten unserer wichtigen Zeit stehlen.« Alle starrten zu mir.
»Wir hatten ein kleines sanitäres Problem zu Hause«, sagte ich einsilbig während ich mich setzte.
»Ist dir ein Stück Seife ins Klo gesprungen?«, raunte Fredi neben mir und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Читать дальше