Wong musste einige Jahre im Ministerium für Staatssicherheit seine Wunden lecken und wurde schließlich ins Politbüro berufen, wo er mit vorgegebener Loyalität und mit knirschenden Zähnen, Zhous Weg zur Präsidentschaft aus nächster Nähe verfolgte. Wong Li hatte die Demütigung nie verwunden. Er fühlte sich seither von dem Establishment der KPC verraten und verachtet. Doch seine Zeit war damals noch nicht gekommen, er musste pragmatisch bleiben. Er half Zhou seine letzten Gegner aus dem Politbüro zu beseitigen und wurde von Zhou dafür zum Verteidigungsminister berufen. Wongs Loyalität gründete auf Notwendigkeit, nicht auf Respekt oder Freundschaft und er hätte Zhou bei jeder passenden Gelegenheit gerne entmachtet und in die Wüste geschickt. Doch Zhous politische Maschinerie war der seinigen überlegen. Und so musste Wong den verlässlichen Vasallen für Zhou geben, bis seine Zeit gekommen war. Und seine Zeit kam jetzt.
„Hast du schon deine Präsentation fertig? Du weißt, du trägst den Plan für die ganze Operation Kǎixuán vor. Ich erwarte nicht weniger als einen perfekten Vortrag.“
Shi Deliang stockte. Er hatte einen Klos im Hals. Egal wie hoch man gekommen war. Wer Wong Li enttäuschte verschwand, in der Regel für immer.
„Mein Vortrag wird perfekt sein. Sie werden alle zustimmen, da bin ich sicher. Nur Yao macht mir Sorgen.“
Wong hob eine Augenbraue. Er wollte nichts von Sorgen hören, nur von Zuversicht. Shi bemerkte seinen Fehler sofort und beschwichtigte eilig: „Aber wir haben ihn weitgehend isoliert. Er sollte kein Problem darstellen.“
Wong hatte sein fieses, kaltes Lächeln im Gesicht als er sagte: „Gut, Shi, sehr gut! Du kannst gehen.“
Wong drückte auf eine Ruftaste und Sekunden später kam seine Vorzimmerdame, eine frühere Miss Shanghai, herein und begleitete den verdatterten Shi aus dem Raum.
Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Wong stand auf und nahm sich eine Zigarette. Er zündete sie an und sog den Rauch tief in sich hinein. Während der Rauch von der Zigarette aufstieg und der Kick des Nikotins einsetzte, schaute Wong zum Fenster hinaus auf den Tiananmen Platz. Er war seinem Ziel nahe. Seine Zeit war gekommen.
Bergen Donnerstag, 11.09.2025 10:34 Uhr CET
Marit Ingvaldsen fuhr im Fond des Taxis Richtung Norden, während sie die letzten Eilmeldungen auf ihrem iPad durchging. Vor fünfzehn Minuten war sie mit einer Agusta Westland AW101 der norwegischen Luftwaffe auf dem Flughafen von Bergen gelandet. Sie würde für die zehn Kilometer nach Haakonsvern, dem Hauptstützpunkt der norwegischen Marine, etwa eine Viertelstunde benötigen. Dort hatte sie eine Sitzung mit dem Generalstab der norwegischen Streitkräfte – Marit war die Verteidigungsministerin Norwegens.
Eigentlich hätte sie mit dem Hubschrauber auch auf dem Marinestützpunkt landen können, aber ihr waren theatralische Auftritte zuwider. Stattdessen fuhr sie mit einem Taxi vor. Ihre Kollegen aus den anderen europäischen Verteidigungsministerien gaben mit ihren Hubschraubern und Dienstflugzeugen an und stellten sie regelrecht zur Schau, aber für Marit war es einfach kein guter norwegischer Stil. Traditionell bleiben norwegische Politiker auf dem Boden und für ihre Mitbürger nahbar. Seit den letzten Terroranschlägen auf Mitglieder der Regierung jedoch, war man auch in Oslo vorsichtig geworden. Marits Dienstfahrzeug in Oslo war ein Monstrum. Es hatte eine Panzerung und die modernste aktive und passive Sicherheitstechnik eingebaut, wodurch es zu den teuersten Automobilen des Landes gehörte. Aber hier in Bergen, ihrer Heimatstadt, verzichtete Marit auf das Protokoll und verließ sich auf ihr Glück. Nicht jeder fand das verantwortungsvoll. Aber sie pfiff auf die Bedenkenträger und vertraute auf ihren Instinkt. Es würde schon nichts passieren, nicht hier in Bergen.
Marit würde den heutigen Tag auf der Marinebasis verbringen. Sie hatte sich bereits zuvor in anderen Funktionen angewöhnt, wann immer es möglich und praktikabel war, die Situation vor Ort zu erkunden. Sie gehörte zu dieser Gattung pragmatischer, skandinavischer Politikerinnen: die Ärmel hochkrempeln und anpacken. Sie war ein Workaholic – belesen und effizient. Sie pflegte ihre Kontakte sorgfältig und hatte ebenfalls ein gutes Händchen mit der Presse. Ihr Fleiß, ihre Medienpräsenz und ihre Kontakte hatte Marit nach der Premierministerin zur zweitmächtigsten Person Norwegens gemacht, den König mal außen vorgelassen.
Sie legte ihr iPad zur Seite und nahm sich die letzten Sitzungsprotokolle des sicherheitspolitischen Ausschusses vor. Sie las den engbedruckten Text und versuchte in ihrem Kopf eine Ordnung zu schaffen.
Worauf kam es an?
Was ist das Wichtigste, das wir erreichen müssen?
War ihr Land überhaupt noch sicher?
Sie machte sich Sorgen. Die Norweger sind ein freundliches und offenes, aber eben auch ein stolzes und wehrhaftes Volk. Marits Land war eine starke Nation, mit mutigen Frauen und Männern, die es zu verteidigen wissen. Trotz ihres Selbstvertrauens pflegte Norwegen immer den Schulterschluss mit ihren Freunden und Verbündeten. Schon im zweiten Weltkrieg hatte Norwegen mit den Briten eine starke Allianz etabliert und so den norwegischen Guerilla-Krieg gegen die Deutschen geführt. Auf der Basis der gewonnenen Erfahrungen mit asymmetrischen, unkonventionellen Kampftaktiken wurden später die Spezialkommandos der norwegischen Armee aufgebaut.
Sie hob ihren Blick von den Akten und schaute aus dem Fenster. Kein Mensch konnte sich der atemberaubenden Schönheit der Fjordlandschaft Mittelnorwegens entziehen. Marit lies ihre Augen für einen kurzen Moment auf der majestätischen Landschaft ruhen, den Fjorden und den entfernten, schneebedeckten Gipfeln, auf den schroffen Felsen und dem stahlblauen Wasser; wie auf einem Gemälde. Dies war ihre Heimat, das Vestland. Achtzig Kilometer im Osten, an dem tief in die Gebirgslandschaft einschneidenden Hardangerfjord, lag ihre Geburtsstadt, Jondal. Hier war sie groß geworden, war in den Hochebenen der Hardangervidda im Winter Ski gelaufen und im Sommer mit ihrem Vater fischen gegangen. Etwas weiter nördlich lag Bergen. Dort hatte sie die Hochschule besucht und ihr Herz an die Stadt verloren. Marit und viele andere hielten Bergen für die schönste Stadt Norwegens.
Dann holte sie die Pflicht aus ihren verträumten Gedanken zurück. Die Teilnehmer der heutigen Sitzung würden sich mit der aktuellen sicherheitspolitischen Situation des Landes und mit der NATO beschäftigen müssen. Es galt eine neue Strategie zur Sicherung Norwegens zu erarbeiten, denn das Nordatlantische Bündnis war obsolet.
Das Taxi hielt sich nördlich auf der 557 und war gerade aus dem Knappetunnelen herausgefahren. Der Fahrer bog links auf den Bjørgeveien. Marit las weiter ihren Bericht. Nach dem Krieg, 1947 bis 1949 hatte die Sowjetunion damit gedroht, Norwegen zu besetzten und sich die Erdölvorkommen anzueignen. Die Besetzung der damaligen Tschechoslowakei 1948 und die Blockade Berlins im selben Jahr waren Ausdruck der bedrohlichen stalinistischen Expansionspolitik der damaligen Zeit. Das kleine Norwegen hätte sich gegen die gewaltige Rote Armee, im Falle eines Einmarsches wie in der Tschechoslowakei, nicht behaupten können. Deswegen suchte Norwegen sein Heil in einer Allianz. 1949 wurde das Nordatlantische Bündnisabkommen in Washington mit Norwegen als Gründungsmitglied unterzeichnet. Von da an hatte ihr Land den Schutz starker Partner, vor allem der USA.
Seit Marit als Verteidigungsministerin Zugang zu allen Informationen hatte, war ihr klar geworden, in welch zerbrechlichem Stadium sich dieses Bündnis befand. Die europäischen Mitgliedsstaaten hatten ihre Rüstungsausgaben in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs fortlaufend verringert und die Hauptlast den USA überlassen. Die Amerikaner bestritten über 70 % des Verteidigungsaufwands für die NATO. Das Trittbrettfahren der Europäer wurde im amerikanischen Wahlkampf ausgeschlachtet und Kenneth Ace, der gegenwärtige US-Präsident, gewann die Wahl mit seinem Versprechen, für die USA einen besseren ‚Deal’ zu verhandeln. Die USA verabschiedeten sich von ihrer Rolle des Weltpolizisten. Stattdessen wurden sie zum Weltsöldner. Wer Schutz wollte musste dafür bezahlen – aufwandsbasiert. Als Ace mit seiner „Paid-to-Protect-Doctrin“ um die Ecke kam und für die Verteidigungsleistungen der USA bezahlt werden wollte, war der Geist des NATO-Vertrags endgültig tot. Norwegen hatte zusammen mit den Briten, den Polen und den Balten auf eine Verhandlung der Summe hingewirkt und war generell bereit, die Zahlungen zu akzeptieren. Deutschland, Italien und andere kontinental-europäische Länder lehnten jedoch kategorisch ab. Die USA zogen sich aus dem Vertrag zurück und verlegten ihre Truppen aus Europa in andere Länder die bezahlten.
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