Er sah dem krächzenden Eichelhäher hinterher, betrachtete die noch frische Losung, die am Rand des Pfades lag – Rehwild. Vielleicht hatte ein Bock seinen Einstand in der Nähe. Er würde der Sache mal bei Gelegenheit nachgehen. Dann wechselte Kurt auf einen breiten Wirtschaftsweg und wanderte nach Süden. Sein Wagen stand nun in Sichtweite. Er dachte daran, dass er Tanja, seiner Frau, noch versprochen hatte auf dem Rückweg Brötchen zu holen und hoffte der Bäcker hatte noch welche mit Mohn.
Ach, bestimmt hat er noch Mohnbrötchen, dachte Kurt als er den Überläufer sah. Ein zweijähriges Stück Schwarzwild stand am Rand des Weges, keine zwanzig Meter vor ihm. Kurt zog das Gewehr hoch in den Anschlag. Das Wildschwein sprang von rechts nach links über den Weg hinweg und war im gegenüberliegenden Buschwerk verschwunden. Kurt richtete sein Fadenkreuz – das Absehen - auf die Stelle, wo das Wildschwein soeben gestanden hatte. Vielleicht waren da noch mehrere Schweine aus seiner Überläuferrotte.
Dann ging es schnell.
Ein weiterer Überläufer erschien aus dem Wechsel heraus und spurtete über den Weg. Kurt hatte ihn in seinem Visier und schwenkte mit. Als das Absehen auf dem Teller – dem Ohr - angekommen war, schoss er. Der Überläufer brach zusammen und rutschte in den Graben des Weges. Kurt repetierte sofort und schwenkte zurück. Ein weiteres Wildschwein war aufgetaucht und rannte in dieselbe Richtung wie die anderen. Kurt schwenkte jetzt entgegen der Bewegungsrichtung der Sau. Er schoss, als sein Absehen auf dem Haupt des Schweins angekommen war. Dann repetierte er nochmals. Eine weitere Sau stand an der Stelle und wusste nicht was es tun sollte. Kurt erlegte es, ohne zu zögern, mit einem gezielten Blattschuss. Es brach auf der Stelle zusammen.
Das ganze hatte keine zehn Sekunden gedauert. Kurt repetierte und hielt auf die erlegte Sauen an. Sie schlegelten noch etwas, aber keine stand wieder auf. Nach fünfzehn bis zwanzig Sekunden sicherte Kurt sein Gewehr und legte seinen Rucksack ab.
Kurt war sich gewiss, dass er die Sauen gut getroffen hatte. Das Schießen war ihm über die Jahre ins Unterbewusstsein übergegangen und die vielen tausend Übungsschüsse, die er auf statische und dynamische Ziele abgegeben hatte, führten zu einer traumwandlerischen Sicherheit im Umgang mit dem Gewehr. Der gesamte motorische Ablauf, den der Anfänger sorgfältig nacheinander durchführen muss – das Gewehr in die Schulter ziehen, den Griff mit der Abzugshand fest umschließen, den Abzug vorziehen bis zum Druckpunkt, Zielen und dann kontrolliert den Zug erhöhen, bis der Schuss ohne zu Verreißen bricht und die Kugel sicher im beabsichtigten Ziel landet – all das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen und gestaltete sich in einer einzigen flüssigen Bewegung.
Nun wartete er. Er ließ das Wild eine Zeit lang in Ruhe, eine Gnade, die der weidgerechte Jäger immer dem Wild gewährt. Es versinnbildlicht die Achtung vor dem Wild und den gebotenen Anstand des Jägers, im Angesicht des Todes.
Dann stand Kurt auf und ging hinüber zum Wild. Alle drei Überläufer hatten einen Schuss durch den unteren Brustkorb, den Blattschuss, der zum sofortigen Tod führt. Kurt war, trotz seiner Erfahrung und seines meisterlichen Könnens, noch immer jedes Mal erleichtert wenn ihm ein sauberer Schuss gelungen war. Das Wild hatte nicht leiden müssen und er brauchte sich nicht zu schämen; eine Nachsuche blieb aus.
Kurt schloss die Augen und empfand Dankbarkeit. Langsam verflog die Aufregung, bei ihm und in seiner Umgebung. Der Gesang der Vögel brandete wieder an.
Er brach drei Fichtenzweige ab und ehrte die Überläufer mit dem letzten Bissen. Dann machte er mit seinem Telefon ein Bild von jedem Stück, für die Dokumentation. Als dies erledigt war zog er sich hygienische Einweg-Handschuhe an und nahm sein Messer. In zwanzig Minuten würde er das Wild versorgt haben. Kurt war froh, dass er mit seinem Auto bis an das Wild heranfahren konnte. So entfiel das mühsame Schleppen. Dann würde er die Sauen in die Kühlkammer bringen und die Gewebeproben für die Trichinenprüfung vorbereiten. Er würde zu spät zum Frühstücken kommen und Tanja würde ihm die Hölle heiß machen. Aber ein gutes Dutzend Familien hatten nun ihren Weihnachtsbraten sicher. So war das Jägerleben nun mal. Er würde es bei Tanja wieder gut machen müssen, irgendwie.
Beijing Mittwoch, 10.09.2025 13:49 Uhr CST
Shi Deliang, Chef des chinesischen Militärgeheimdienstes, wurde von einer attraktiven Vorzimmerdame in das Büro des Verteidigungsministers geführt. Shi war der mächtigste Spion Chinas, und das in einer Zeit, in der die Spionage von einer nie dagewesenen Bedeutung für das Land war. Er herrschte über alle Nachrichtendienste der Volksrepublik. Und er war Chef der politischen Abteilung der Zentralen Militärkommission, der Militärführung der Kommunistischen Partei. Shi hatte eine einflussreiche Position in der vielleicht mächtigsten Organisation der Welt. Doch auch er hatte einen Chef; den Verteidigungsminister Wong Li, in dessen Büro er sich gerade befand.
Wong brütete gerade über einen Bericht und hatte Shi noch nicht wahrgenommen. Das gab Shi die Gelegenheit, sich das geschmackvolle Interieure des Arbeitszimmers des zweitmächtigsten Mannes in China anzuschauen. Vorbei war es mit den öden, sowjet-inspirierten Holzvertäfelungen. Es fehlten jegliche kitschigen Gemälde zur Verherrlichung der kommunistischen Großtaten wie ‚der lange Marsch‘. Stattdessen Postmoderner Realismus. Geschliffener Beton, große Fensterfront mit Blick auf den Tiananmen, geölte Teakholzdielen auf dem Boden, eine Wand war mit hellem Zedernholz beschlagen, das einen süßlich-würzigen Duft ausströmte und eine fühlbare Erhöhung der Behaglichkeit erzielte. An den Wänden hinter Wong erblickte Shi moderne gegenstandslose Malerei. Ein Bild sah aus wie ein Kadinsky. Dänisches Mobiliar aus Stahl und Leder, Blumen in einer großen Vase, alles wirkte stylish und behaglich. Und das war notwendig, wenn man wie Wong achtzehn Stunden am Tag arbeitete. Hinter Shi befanden sich Monitore an den Wänden. Es liefen Xinhua, China News Service, aber auch Bloomberg, Reuters und andere, westliche Informationsdienste. Der Ton war abgestellt. Wong hatte auf seinem Schreibtisch sehr ordentlich eine Reihe von Berichten aufgestapelt, die er in den kommenden 24 Stunden lesen musste.
Wong legte das Dossier zur Seite, hob seinen Blick und nahm Shi ins Visier. Shi kannte Wong seit vielen Jahren, gehörte zu seinem innersten politischen Netzwerk und war sein wichtigster Verbündeter. Und trotzdem fühlte er sich jedes Mal unbehaglich, wenn ihn Wong mit seinen eiskalten Augen ansah. Wong verzichtete auf jede formelle Begrüßung:
„Wo stehen wir mit den Vorbereitungen?“
„Alle sind in Stellung gebracht“, antwortete Shi. „In den Zielstädten sind die Sicheren Häuser besetzt und alles ist vorbereitet. Die Agenten mit dem Kampfstoff fliegen nächste Woche Dienstag von vier Ausgangsflughäfen nach Europa ein. Da die Waffe nur über vier bis fünf Tage stabil ist, muss sie nach unserer nächsten ZMK-Sitzung direkt vor Ort zum Einsatz gebracht werden. Alles wird wie am Schnürchen laufen.“
„Das wollen wir beide für dich hoffen. Es ist deine Mission und deine Verantwortung.“
Shi holte tief Luft und nickte. Die Mission, die Shis Geheimdienst erarbeitet hatte, war von langer Hand geplant, ... von sehr langer.
Seit 2010 hatte die chinesische Führung erkannt, dass die Umweltschäden in China ernstzunehmenden Umfang haben würden. Es war eine Entscheidung zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Die industrielle Entwicklung des Landes durfte nicht gebremst werden. Zu viele Menschen mussten in Lohn und Arbeit gebracht werden. Die Beschäftigung von möglichst großen Anteilen der Bevölkerung sollte das Volk beschäftigen und ruhig stellen. Die Steuereinnahmen wurden zur Hochrüstung einer modernen Armee verwendet. Rüstung und Wirtschaftswachstum hatten oberste Priorität. Danach erst kam die Umwelt. Am Ende, so dachten die Mitglieder des Politbüros, wenn man das reichste und militärisch stärkste Land der Welt war, konnte man alle Probleme lösen, zur Not mit Gewalt und auf Kosten anderer Länder. Macht kommt aus den Rohren der Gewehre, so hatte Mao das einmal trefflich formuliert. Zudem bereicherte sich die Elite der Partei hemmungslos. Keine Organisation der Welt hat mehr Dollarmilliardäre in ihre Mitte, als die KPC.
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