Liling hatte noch etwas Zeit, der Flug war erst für 12:45 Uhr vorgesehen. Sie stand auf und ging hinüber in den Duty-Free-Bereich. Sie stöberte in der Parfümerie und fand ein Flakon ihres Lieblingsparfüms. Dabei ging sie, scheinbar suchend, durch die Reihen der Parfümerie. Dies gewährte ihr einen 360° Rundblick. Sie studierte die umstehenden Menschen. Es dauerte nicht lange und sie hatte ihre Verfolgerin entdeckt. Eine großgewachsene schlanke blonde Frau, vielleicht Mitte dreißig, mit hochgesteckten Haaren. Sie stand gegenüber am Tresen der Cafeteria. Liling hatte sie zuvor bereits am Check-in gesehen. Sie schien ihr also nachgegangen zu sein. Der Bedienstete der Cafeteria hatte die Frau bereits zweimal angeschaut, um die Bestellung aufzunehmen, war aber ignoriert worden. Die Frau schaute auch nicht auf den Monitor mit den Flugzeiten, sondern beobachtete unmerklich den Duty-Free-Bereich.
Sie war Lilings Verfolgerin.
Liling musste sie loswerden, sonst gefährdete sie noch ihre Mission. Und das konnte Liling auf keinen Fall zulassen. Sie bezahlte das Parfum, ging demonstrativ an der Frau vorbei und sah sie für einen kurzen Moment unverhohlen an. Wenn die andere Frau tatsächlich von einem Geheimdienst war, hatte Liling ihr somit ein Zeichen für Gesprächsbereitschaft gemacht. Liling schritt den Gang hinunter in Richtung Damentoilette. Sie ging durch die Tür und schaute sich in den Kabinen um. Sie war allein. Liling holte das Flakon des neugekauften Parfums aus der Verpackung und stellte es auf den Waschtisch vor sich. Als die blonde Frau durch die Tür kam, war Liling gerade dabei, ihren Lippenstift einzufahren und die Kappe aufzustecken. Die Frau suchte sofort den Augenkontakt, nachdem auch sie sich vergewissert hatte, dass sie und Liling alleine waren. Liling zog unbeirrt ihren Lidstrich nach, beobachtete die Frau im Spiegel und sprach sie an: „Sind sie CIA, MI-6, Mossad ...?“
„Sagen wir, ich komme von einem besorgten, westlichen Dienst, dass sich für die verstärkte Aktivität ihrer Kollegen im Nahen Osten interessiert.“, antwortete die Frau mit einem für Liling sofort erkennbaren Südstaatenakzent.
Das war’s. Diese Frau arbeitete für den CIA. Und sie war nahe an der Operation dran. Liling hatte keine Zeit ein Bogus-Szenario zu entwerfen oder zu versuchen, ihrerseits die Dienste dieser Frau zu kaufen. Sie musste nach Hamburg. Liling hatte keine andere Wahl. Die Frau musste verschwinden. Schnell denken und beherzt handeln!
Sie drehte sich zu der blonden Frau um und stieß dabei mit der linken Hand den Flakon vom Waschtisch. Er fiel zu Boden und zersprang in tausend Splitter. Die blonde Frau sah intuitiv zu Boden, eine Reaktion, die auch bei bestem Training kaum zu vermeiden war. Liling packte sie mit der rechten Hand am Hals und trat ihr mit dem linken Fuß die Beine weg. Durch einen kräftigen Stoß Lilings fiel die Frau rückwärts zu Boden und knallte mit dem Kopf auf die Fliesen. Liling holte aus und zerschmetterte ihr mit einem kräftigen Handkantenschlag den Kehlkopf. Die Frau war paralysiert und würde gleich sterben.
Liling zog sie in eine Toilettenkabine, schloss die Tür, nahm ihr Telefon zur Hand und rief eine Notnummer ihres Geheimdienstes an. Sie gab ihre Position am Flughafen durch und bestellte den lokalen Aufräumdienst. Dann ging sie nach vorne. Sie packte ihre Sachen ein und wartete. Eine chinesische Frau im mittleren Alter kam herein – offensichtlich eine Passagierin.
„Sie sollten die andere Toilette benutzen. Mir ist ein Malheur passiert. Es liegen hier überall Scherben.“ Liling zeigte auf den Boden mit dem zerbrochenen Flakon und den Glassplittern. Es roch betörend nach dem vergossenen Parfum.
„Ich habe schon dem Putzdienst Bescheid gegeben“, ergänzte Liling. Die Frau signalisierte Verständnis und ging wieder hinaus. Kurze Zeit später kam eine kräftige kleine Frau mit einer Schürze und einem Rollwagen herein.
„Wo soll geputzt werden?“ fragte sie.
Liling öffnete die Tür zur Toilettenkabine, in der die blonde Frau lag. Die andere Chinesin nickte. Liling packte ihre Sachen zusammen und ließ die Dame mit ihrer Arbeit zurück. Bevor sie hinausging atmete sie nochmals tief durch. Sie redete sich ein: Es ist alles OK. Ich denke an meinen Flug und meine Termine. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche.
Dann war sie wieder vollständig gefasst, öffnete die Tür und schritt wieder hinaus in das Treiben des Flughafens. Niemand, der sie sah, hätte ahnen können, dass Liling gerade eine Frau getötet hatte.
Sie ging zur großen Fensterfront, von wo aus man die Maschinen starten sehen konnte. Sie war alleine. Die nächste Person war eine junge Frau, mit einem Kind, das die aufsteigenden Flugzeuge mit leuchtenden Augen betrachtete. Hier konnte Liling sprechen. Sie wählte die Nummer von Dù Xue. Er ließ es ein paarmal klingeln, dann ging er ran.
„Warum rufst du mich an?“
„Eine Frau hat versucht mich zu kontaktieren, wahrscheinlich CIA ...“
„Wo ist sie jetzt?“
„Toilettenkabine, bei den Gates. Der Aufräumdienst kümmert sich schon um sie.“
Dù Xue war aufgebracht: „Musste das sein? Gab es keinen anderen Weg?“
„Nein, gab es nicht! Mein Flieger geht in zwanzig Minuten und sie erwähnte unsere Aktivitäten im Nahen Osten. Sie war an mir dran. Nun kann sie nichts berichten und der CIA wird erst mal Zeit brauchen, sie zu suchen. Wenn ich Glück habe, verlieren sie meine Spur. Ich habe richtig gehandelt.“
Dù Xue war einen Moment lang still. „Nun gut, ... Du konzentrierst dich auf deine Mission, verstanden. Keine Fehler. Und rufe mich vorher an, bevor du dich entscheidest noch jemanden zu töten, hörst du.“
„Geht Klar, mache dir keine Sorgen!“
Liling beendete das Gespräch. Ihr Blick war nun nach vorne gerichtet. Sie ging zu ihrem Gate. Das Boarding würde in zehn Minuten beginnen. Sie setzte sich hin und versuchte sich zu entspannen, aber ihre Gedanken drifteten zurück zu ihrer Mission. Bald würden das Chaos und das Töten beginnen. Der Sieg über die Europäer war für das Überleben ihres Volkes und der Partei notwendig. Das war nun ihr Ziel: der Sieg Chinas und der Tod oder die Vertreibung von fünfhundert Millionen Europäern.
Hürtgenwald Mittwoch, 10.09.2025 06:04 Uhr CET
Der Strand war breit und der Sand weiß. Die Brandung des Meeres rauschte nahebei. In den Dünen begannen die Schildkröten zu schlüpfen.
Es war soweit.
Heute war der Tag ihrer Geburt. Sie brachen sich mühevoll durch die Schale ihrer Eier. Instinktiv gruben sie sich aus ihrer Bruthöhle einen Weg nach oben, durch den Sand, ans Tageslicht. Einmal draußen begannen sie blind zu krabbeln, in Richtung des Meeres. Sie konnten es nicht sehen – aber hören. Und sie krabbelten darauf zu, mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Körper, immer nur darauf zu.
Alle waren sie gekommen. Die Möwen, die Seeschwalben, die Leguane und die Krabben. Heute war für sie angerichtet. Sie stürzten sie sich auf die kleinen Schildkröten und begann sie zu fressen. Sie fraßen bis sie nicht mehr konnten. Und wenn sie nicht mehr fressen konnten, dann töteten sie trotzdem weiter, im Blutrausch.
Viele kleine Schildkröten würden heute sterben. Hunderte, tausende, zehntausende kleine Schildkröten würden von den Krabben bei lebendigem Leibe gefressen werden oder von den Möwen in Stücke gerissen werden.
Die, die noch lebten, krabbelten weiter, so schnell sie konnten, blind, in Todesangst, mitten im Gemetzel, hin zum Meer, so schnell sie konnten. Es war ihre einzige Möglichkeit, … war ihre einzige Chance zu leben …
Kurts Kopf fiel vornüber. Dadurch wachte er auf. Er musste eingenickt sein. Es war noch dunkel und er hatte früh aufstehen müssen, um rechtzeitig hier zu sein. Kurt hatte diesen Traum von den Schildkröten schon seit seiner Jugend. Er musste als Kind eine Fernsehdokumentation gesehen haben. Ihm war dieses grausame Naturspektakel in Erinnerung geblieben.
Читать дальше