Um den Umweltauswirkungen entgegen zu wirken, hatte man zwar in großem Stil in erneuerbare Energien investiert und ein landesübergreifendes System von Transportleitungen für Trinkwasser gebaut. Doch man war im Politbüro immer skeptisch gewesen, ob diese Maßnahmen reichen würden. Man hatte einen Plan-B entwickelt.
Wenn Kontinentalchina zukünftig als Lebensraum für ein 1,4 Milliarden-Volk aufgegeben werden müsste, gäbe es zwei Regionen, die zur Umsiedlung geeignet erschienen: Nordamerika und Europa. Afrika entwickelte sich zu einem Wüstenkontinent. Südamerika litt unter El-Niño und La-Niña und hatte nicht genug Potenzial. Die anderen asiatischen Länder waren noch schlimmer dran als China. Australien galt mittlerweile als kaum mehr bewohnbar. Kanada hingegen war mit gemäßigtem Klima gesegnet und militärisch schwach gesichert. Aber es war auch der Vorhof der USA und die Amerikaner würden ihren Kontinent mit Zähnen und Klauen verteidigen. Deswegen erschien es militärisch - trotz des immensen technischen und materiellen Fortschritts der Volksbefreiungsarmee - als nicht aussichtsreich, die USA herauszufordern.
In Europa sah dies anders aus.
Die USA hatte sich aus der NATO zurückgezogen. Sie hatte nur noch Beobachterstatus. Artikel 5 des NATO-Vertrages, der die Mitglieder verpflichtete, sich gegenseitig militärisch im Angriffsfall zu unterstützen, hatte für die USA keine Bedeutung mehr. Der Rückzug aus den Verpflichtungen zur Verteidigung Europas wurde von einer großen Mehrheit der Amerikaner getragen. Die Europäer waren untereinander zerstritten und die Solidarität der Bevölkerungen untereinander war minimal. Großbritannien hatte sich von der EU getrennt. Frankreich hatte sich umfangreiche Sonderkonditionen herausverhandelt. Italien war wirtschaftlich am Boden und wurde von den übrigen EU-Staaten mit Nothilfekrediten am Leben gehalten. Deutschland verfolgte einen radikalen pazifistischen Kurs und blockierte alle Bemühungen eine europäische Streitmacht aufzubauen. Die Nord- und Osteuropäer rüsteten auf, waren aber technologisch ins Hintertreffen geraten. Die Armeen Europas wiesen untereinander so viele Kompetenzlücken auf, das eine gemeinsame effektive Verteidigung nicht möglich war. Russland hatte zwar eine militärisch überlegene Armee, fürchtete aber die kombinierte Wirtschaftsmacht der Europäer und hielt sich für zu schwach, um Europa alleine anzugreifen.
Wong Li, der Verteidigungsminister Chinas, hatte den russischen Präsidenten überzeugt, dass China und Russland gemeinsam Europa bezwingen konnten.
Aber wie greift man Europa an? Wie schaltet man ihre militärischen Fähigkeiten aus und überzeugt die Zivilbevölkerung von der Notwendigkeit zur Flucht. Nuklearwaffen sollten nicht zum Einsatz gebracht werden, da es galt den Lebensraum zu erhalten. Das Gleiche galt für Chemiewaffen. Eine großangelegte konventionelle Eroberung würde zur Verwüstung Europas führen und es sollten - soweit dies möglich war - die hervorragende Infrastruktur und die Bausubstanz Europas erhalten bleiben. Ziel war somit die Ausschaltung des europäischen Militärs und möglichst große Anteile der Zivilbevölkerung – bevor es überhaupt zum Kampf kam. Und das ging am besten biologisch. Darüber war man sich bereits 2012 im Klaren.
Wenn man also das militärische Personal, und dazu genommen auch weitere Ordnungshüter wie Polizei und Küstenwache mit einem Schlag ausschalten will, muss man nahe rankommen. Du diesem Zweck wurde die Firma Optosanex gegründet.
Öffentliche Dienstleistungsverträge mussten ab einer gewissen Größenordnung europaweit ausgeschrieben werden. Optosanex beteiligte sich in ganz Europa seit 2014 an allen Ausschreibungen öffentlicher Liegenschaften zur Vergabe von Serviceverträgen im Bereich Sanitär. Optosanex betreute Toilettenanlagen. Die Firma wurde vom chinesischen Geheimdienst über ein dichtes Netz von europäischen Scheinfirmen finanziert und konnte somit unter Kosten anbieten. Dadurch hatte Optosanex über ein Jahrzehnt kontinuierlich die meisten öffentlichen Ausschreibungen zur Bewirtschaftung der Sanitäranlagen gewonnen. Dass sie mit wirtschaftlich unmöglichen Preisen die Konkurrenz ausstach, interessierte in den schuldengeplagten Verwaltungen europäischer Gemeinden, Krankenhäusern, Raststätten, Ämtern und vor allem in den Kasernen, Militärflughäfen und Marinehäfen am Ende niemanden. Die hygienischen Verhältnisse waren stets tiptop, die Bezahlung des Personals war so auskömmlich, dass niemand Anstoß nahm. Optosanex wurde von mehreren Geheimdiensten geprüft aber man fand nie etwas Anrüchiges. Da die Leistungen über lange Zeit tadellos waren, hatte Optosanex eine Monopolstellung aufgebaut. China hatte in der Zeit hohe Millionenbeträge in die Subventionierung der Firma gesteckt. In den kommenden Tagen würde sich dieses Investment auszahlen. Optosanex war der Schlüssel zur Infizierung eines Großteils der Personen, die für die Verteidigung und die für Aufrechterhaltung von Ordnung und Stabilität in Europa betraut waren.
„Sind wir sicher, dass die Waffe wirkt und den Europäern nichts einfällt, um ein Gegenmittel zu entwickeln?“, fragte Wong Li nach.
„Ja, ich bin sicher, dass sie wirkt. Hunderte toter Rhesusaffen und einige Dutzend toter Delinquenten können das bezeugen. Und nein, keinesfalls finden sie ein Gegenmittel. Bei dem Erreger handelt es sich um einen künstlich geschaffenen Virus aus der Biowaffenabteilung des Militärischen Geheimdienstes. Es ist ein neuartiges genetisches Design, bei dem zum Teil Erbgut des Ebola-Virus und des Lassafiebers genutzt wurde. Damit ist es gelungen, die hohe Sterblichkeit des Ebola mit der großen Ansteckungsgefahr des Lassafiebers zu kombinieren. Sie haben keine Chance. Nur das CDC in Atlanta könnte mit etwas Glück ein Gegenmittel finden. Aber auch sie würden Wochen oder Monate brauchen. Bis dahin gehört Europa uns.“
Wong lächelte kühl. Das war genau das, was er hören wollte. Auf diese kleine Ratte Shi konnte er sich verlassen. Nächste Woche Montag trat das wichtigste und entscheidende Gremium für Militärfragen zusammen, die Zentrale Militärkommission der KPC. Staatspräsident Zhou und elf weitere Minister und Militärs würden über Krieg und Frieden entscheiden. Wong und Shi waren Mitglieder der ZMK. Wong hatte viele Jahre daran gearbeitet, diesen Krieg vorzubereiten. Krieg war eine Zeit, in der skrupellose und entscheidungsstarke Männer nach oben kamen und Zauderer und Schwächlinge abserviert würden.
Wong Li war stark, skrupellos und hart, ein begnadeter Organisator und ein effektiver Intrigant. Nur Zhou, der Staatspräsident, hatte ein besseres Netzwerk und eine breitere Machtbasis als er. Der kommende Krieg, davon war Wong Li überzeugt, würde das ändern.
Wong entstammte, wie viele der sogenannten Prinzlinge, einer alten kommunistischen Familie und wie Zhou war auch Wong für das höchste Amt bestimmt gewesen. Sein leiblicher Vater war ein hohes Mitglied in der Regionalverwaltung in Lanzhou. Er hatte sich jedoch eine jüngere Frau genommen und Wong mit seiner Mutter verstoßen. Wongs Onkel, Wong Inlei, nahm Li und seine Mutter bei sich auf und spielte fortan die Rolle des Vaterersatz für den kleinen Li. Wong Inlei gehörte zum mittleren Kader und war ein einflussreicher Beamter im Ministerium für Kohle und Stahl. Dort machte er in den Goldgräberjahren der Neunziger und des ersten Jahrzehnts nach dem Millennium auch ein stattliches Vermögen. Er entwickelte die vorzüglichen Verbindungen, die Reichtum mit sich brachte, und ebnete Wong Li den Weg.
Der Rückschlag kam unter der Präsidentschaft von Xi Jinping. Onkel Wong fiel einer Antikorruptionswelle zum Opfer. Fast wäre Wong Lis Karriere ebenfalls mit der seines Onkels beendet gewesen. Doch er hatte bereits selber, durch ein weitverzweigtes und loyales Netzwerk im Umfeld des Ministeriums für Staatssicherheit, sein eigenes politisches und vielleicht auch leibliches Überleben sichern können. Wahrscheinlich wäre Wong auch ohne diesen Rückschlag nicht Staatspräsident geworden, denn Zhou war bereits zu diesem Zeitpunkt Politbüromitglied und hatte somit die Nase vorn.
Читать дальше