Matti fragte: „Na, wirst du morgen deinen Onkel nicht auf die Jagd begleiten?“
Kurt lachte und schüttelte nur den Kopf. Peet entgegnete etwas verunsichert:
„Eh, nöh, ... Jagd ist nix für mich, Tiere töten und so. Das ist so was von uncool. Macht ihr das nur mal.“ Er hob die Hand, winkte kurz und lässig zum Abschied, nahm Julia an der Hand und zog sie in Richtung seiner Großmutter und seiner Tante.
Kurt schaute Matti verständnissuchend an, aber Matti lachte nur. Er hatte auch Kinder und Neffen und wusste nur allzu gut, dass sie ihren eigenen Weg gehen müssen.
Peet studierte Bauingenieurwesen an der RWTH in Aachen und Julia studierte Sport. Im Gegensatz zu allen Männern der Houben-Familie hatte Peet mit der Jagd nichts am Hut. Er war zwanzig und Julia neunzehn Jahre alt. Beide waren typische Vertreter ihrer Generation. Sie hatten sich beim Hochschulsport kennengelernt. Sie waren begeisterte Crossfit-Fans und trainierten jede freie Minute gemeinsam. Ansonsten wollten sie das Leben genießen, einen coolen Job finden und sich einen mondänen Lebensstil zu Eigen machen. Julia hielt die Houbens für eine weltfremde Merowinger-Familie. Aber sie konnte Tanja und Evelyn gut leiden. Als Julia bei den beiden ankam, wurden sie warmherzig begrüßt.
Evelyn machte den Anfang: „Ah, da ist sie ja die Süße. Hallo Julia!“ Sie zog Julia an sich heran und umarmte sie herzlich. Tanja machte weiter, umarmte Julia ebenfalls und beide scherzten ein wenig.
„Hilfst du uns ein bisschen mit dem Essen? Hilde wird das nicht alles allein hinbekommen.“
Julia zog die Augenbraunen hoch. „Nur wenn Peet mithilft. Das Patriarchat in dieser Familie wird mit meiner Generation beendet!“ Sie gab Peet einen Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen und alle prusteten vor Lachen.
Kurt gesellte sich dazu. „Habe ich etwas verpasst?“
Tanja fing die ganze Sache ab. „Nichts hast du verpasst, Mausebär! Hilf lieber deinem Onkel mit dem Aperitif.“ Kurt gehorchte freimütig und machte sich auf zur Anrichte, wo der Sekt, der Aperol und der Orangensaft bereitstanden.
Tanja, Julia, und Evelyn gingen zusammen mit Hilde in die Küche. Peet trottete hinterher. Auf der Anrichte waren silberne Tabletts mit Antipasti, Wurst und Käse, der große Korb mit den Brotvariationen und die übermächtige Terrine mit der Suppe platziert. Sie fingen an die Frischhaltefolien von den Tabletts herunterzuziehen. Peet und Julia trugen die ersten Tabletts heraus und marschierten in Richtung Speisesaal.
Evelyn fragte Tanja. „Und, sollten wir nächste Woche mal was unternehmen, shoppen oder zu Van-den-Daehle uns ein schönes Stück Torte genehmigen?“
Tanja war für jede Schandtat zu haben, so lange Evelyn mit dabei war. Es war die genau umgekehrte Beziehung, die man zwischen Mutter und Schwiegertochter erwartete.
„Klar, bin dabei, nur Donnerstag geht nicht. Da muss ich auf eine Weiterbildung nach Düsseldorf und werde abends wahrscheinlich zu erledigt sein. Aber Freitag mache ich etwas früher Schluss. Wir könnten uns am Domkeller treffen und gehen anschließend wohin es uns treibt.“
Der Domkeller war einer der ältesten und urigsten Kneipen Aachens. Sie galt den Einheimischen neben Dom und Rathaus als ein Wahrzeichen der Stadt. Bei schönem Wetter konnte man draußen sitzen und den schönsten Blick der Stadt genießen. Evelyn nickte. „Also abgemacht. Freitag, drei Uhr nachmittags am Domkeller! Nun aber raus mit all diesem Essen.“ Die beiden Frauen nahmen sich zwei Tabletts und machten sich auf, in den Speisesaal gegenüber. Die Gäste hatten sich eingefunden und der gemütliche Teil des Festes hatte begonnen - das letzte Fest der Familie Houben.
Beijing Montag, 15. 09.2025 10:42 Uhr CST
Zhou Yinhong, der Staatspräsident der Volksrepublik China, sah hinaus in das graubraune Fiasko, das außerhalb seiner Limousine stattfand. Der Smog war heute wieder besonders schlimm. Ein starker Wind hatte den braungelben Staub der versteppten Gebiete im Norden Beijings mit dem Ruß und den Abgasen der 20-Millionen-Stadt zu einem giftigen Nebel vermischt, durch den sich die Passanten quälten.
Die Menschen, die Zhou draußen sah, hatten in der Mehrzahl der Fälle Papiermasken auf. Diejenigen, die es sich leisten konnten, trugen diese neuen Ganzgeschichtsmasken, mit den feinporigen und wechselbaren Filtern. Mit diesen Masken konnte man die Gesichter der Menschen sehen, und sie wirkten damit weniger bedrohlich, als die Masken der ABC-Anzüge mit ihren zwei runden Augenfenster, wie sie das Militär verwendete.
Das Stadtbild war gespenstisch, fast endzeitlich. Eine Kommunikation mit den Masken war nur eingeschränkt möglich, doch das hatte für die meisten Passanten keine Bedeutung. Jeder eilte so schnell er konnte zum seinem Ziel und versuchte dabei, sich möglichst wenig zu vergiften. Das diese Luft die Lebensspanne eines jeden Einzelnen drastisch verkürzte, war eine Tatsache, die mit größter kollektiver Anstrengung ignoriert wurde, zumindest öffentlich. An seiner Arbeitsstelle oder zuhause angelangt, konnte man wieder gute gefilterte Luft atmen. Die Reichen und Privilegierten, wie Zhou, fuhren große Autos mit Partikelfilter, die man mit unterschiedlichen Duftnoten bestellen konnte. Zhous Limousine hatte derzeit einen Filter mit Sandelholz-Duft. Die Armen, die Heerschar der entlassenen Fabrikarbeiter aus den geschlossenen, staatseigenen Betrieben, hatten noch nicht einmal das Geld für die Papiermasken. Solche Menschen wurden kaum älter als fünfzig. China war zu einer sehr ungleichen Gesellschaft geworden.
Tausende Menschen sah Zhou an sich vorbeiziehen, im täglichen Ausnahmezustand der Hauptstadt. Er fragte sich, wie lange sie noch diese katastrophalen Umweltbedingungen so stoisch ertragen würden. Die zahlreichen sogenannten Umweltaktivisten saßen wegen Aufwiegelung oder Störung der öffentlichen Ordnung im Gefängnis. Aber auf Dauer – und das wussten alle im Politbüro - würden diese Umweltbedingungen zu einem Aufstand führen.
Vor Jahren hatte man bereits die strengsten Umweltauflagen der Welt für die Industrie in der Umgebung der Hauptstadt in Kraft gesetzt. Aber die Schwerindustrie produzierte trotz der Umweltauflagen weiterhin Schadstoffe in gigantischem Ausmaß. Elf Millionen Pkw und 900.000 Lkw taten das ihre. Als das Politbüro ein Gesetz zur Begrenzung der Anzahl von Privat-Pkw in der Hauptstadt vorschlug, kam es zu Massendemonstrationen der Mittelschicht. Die Menschen sahen in einem Auto das Statussymbol ihres Aufstiegs. Dafür hielten sie die Wirtschaft am Laufen, tolerierten ohne zu murren die Korruption, die Gängelei und die Skandale der Eliten. Alles was sie verlangten, war ein kleines bisschen Wohlstand: eine eigene Wohnung, ein eigenes Auto und natürlich die Möglichkeit es zu nutzen - uneingeschränkt. Diesen Wohlstand hatten sie sich hart erarbeitet. Den würden sie sich nicht nehmen lassen und dafür gingen sie auf die Straße. Das Gesetz trat nie in Kraft.
Die innenpolitische Lage im Land wurde immer gespannter. Die Internet-Chatrooms von Regimekritiker konnten nicht so schnell gelöscht werden, wie sie neu eingerichtet wurden. Dutzende von Demonstrationen mussten in allen Teilen des Landes jeden Tag aufgelöst werden. Im letzten Monat waren über dreitausend sogenannte „Bürgerrechtler“ verhaftet und interniert worden. In Summe waren zu jeder Zeit über 500.000 politische Gefangene in Haft. Die meisten Verhafteten waren nur Mitläufer und wurden nach kürzester Zeit wieder freigelassen. Die Behörden, die Fabriken und die Dienstleistungsunternehmen des Landes brauchten sie schließlich. Aber für beide Seiten, das Regime und die Bürger, war es eine heikle Patt-Situation.
Elektrofahrzeuge konnten sich nur die wohlhabendsten Genossen leisten. Es wurde zur Pflicht für jeden im Kader eines zu fahren. Auch die Staatskarosse des Präsidenten war mittlerweile ein Elektrofahrzeug. Doch dieses Zugeständnis beruhigte das Volk nur wenig. Das eigene Volk war heute, mehr denn je, die größte Gefahr für den Machtanspruch der Kommunistischen Partei Chinas. Ihr Machterhalt und der Erhalt der öffentlichen Ordnung waren die obersten Staatsmaximen. Um sie zu wahren würde man sogar einen Krieg führen.
Читать дальше