Otto blickte ihr nach. Eine fähige und patente, junge Frau, dachte er. Er würde sie im Blick behalten. Vielleicht konnte er sie in Zukunft für sein Haus rekrutieren. Aber das hatte Zeit. Er gab seinen Mitarbeitern das Zeichen zum Aufbruch. Auch auf ihn würde nach dem Essen noch viel Arbeit warten und wahrscheinlich würde er heute Abend im Büro in Pullach schlafen. Denn was seine Agenten ihm bisher berichteten, hatte nichts mit dem ungetrübten Bild von eben zu tun. Seine blauäugige Zusammenfassung basierte auf politischer Räson, nicht auf der faktischen Bedrohungslage. Eines teilte er mit Henny. Auch er machte sich Sorgen um sein Land. Es hatte viele Feinde und noch nie in Ottos Lebenszeit so wenige Freunde wie heute. Und es brauchte fähige Menschen, die für das Land kämpfen konnten. Henny war ein solcher Mensch. Otto hielt sich auch für einen solchen Kämpfer. Aber, so dachte er sich, erst nach einem guten Lamm-Karree! Er ging hinter seinen Leuten her und, da er der Letzte war, schloss er die Tür zum kleinen Kabinettssaal hinter sich zu.
Aachen Samstag, 13.09.2025 11:14 Uhr CET
Kurt wartete unten im Flur. Er hatte sich bereits vor einer Viertelstunde fertiggemacht, doch seine Frau war immer noch oben im Bad. Kurt war sich dessen bewusst, dass es ein Schicksal war, dass er mit allen verheirateten Männer auf der Welt teilte. Tanja und er hatten am Morgen ihre Wochenendbesorgungen erledigt und waren für den Rest des Tages auf eine Feier eingeladen. Kurt stand da in seinem dunkelgrauen Schurwollanzug, dem Autoschlüssel und dem Geburtstagsgutschein in der Hand. Warum Frauen auch immer so lange brauchen, um sich fertig zu machen. Es war doch nur der 70. Geburtstag von Onkel Ferdinand, keine Hochzeit … dachte er im Stillen.
Die Familie würde da sein und ein paar der unvermeidlichen Honoratioren. Schließlich war Ferdinand Professor und im Vorstand des Hegerings, des Gesangsvereins und wahrscheinlich noch in drei bis vier weiteren Vereinen. Dennoch war sein Geburtstag eine recht zwanglose Angelegenheit und es gab keinen Grund so lange vor dem Spiegel zu verweilen.
„Liebes, bist du bald fertig?“
„Klappe halten da unten. Du bist verheiratet und hast zu warten. Jetzt lass mich in Ruhe, sonst dauert es noch länger!“
Kurt lächelte müde. Wenigstens war man sich über seine Rolle einig.
Zwanzig Minuten später saßen sie im Auto. Ferdinands Haus lag ganz in der Nähe des Kaiser Friedrich Parks am Brüsseler Ring in Aachen, in einem alten und gediegenen Villenviertel. Es war der Familiensitz der Houbens. Konrad Houben, Kurts Vater, war nach seiner Hochzeit ausgezogen und hatte seinem älteren Bruder Ferdinand das Haus der Eltern überlassen. Er nannte es immer noch „das Verlies“, denn es war recht dunkel und verströmte die muffige Atmosphäre einer vergangenen Epoche. Es ähnelte fast einer Burg. Eine dreistöckige Villa mit kleinen Fenstern, und einem Schieferdach.
Das Haus war viel zu groß für Ferdinand allein. Seine Frau war vor mehr als 20 Jahren gestorben und er hatte nie wieder geheiratet, obwohl sich einige Kandidatinnen gefunden hätten. Eine Haushälterin ging ihm in den täglichen Dingen des Lebens zur Hand. So konnte er sich voll und ganz seinen Leidenschaften hingeben: dem Lehrauftrag an der Uni, seinen Vereinen und natürlich der Jagd. Heute jedoch war die Familie dran.
Kurt parkte den Wagen am Rand der aufsteigenden Straße. An der Anzahl der Autos konnte man sehen, dass die Feier bereits begonnen hatte. Kurt nahm Tanja bei der Hand und sie gingen gemeinsam den steilen Weg zum Eingang des Familiensitzes hoch. Am Eingang hielt Kurt inne, musterte seine Frau liebevoll und fragte: „Bereit?“
Tanja lachte und antwortete: „Auf in die Löwengrube!“
Kurt klingelte. Es war eine Klingel, wie aus einem alten Krimi von Edgar Allen Poe, Marke „altes englisches Aristokratenschloss“ - Ding-Dong.
Tanja musste jedes Mal kichern, so kitschig war sie.
Hilde, die Haushälterin kam zur Tür.
„Hallo Kurt, hallo Tanja. Ferdinand und die anderen sind oben im Salon.“
Kurt ging voraus, die steile Treppe hoch ins erste Obergeschoss. An der Wand hingen, wie konnte es anders sein, die Insignien eines alten Familiensitzes: Gemälde und liebevoll eingerahmte Fotografien längst verblichener Vorväter mit verzwirbelten Schnurrbärten und Vormütter mit Hauben und Trachten. Dazwischen, wo Platz war, die Trophäen: Gehörne vom Rehbock, Hirschgeweihe, Gewaff vom Schwarzwild und Schnecken von Muffelwidder.
„Was wirklich noch fehlt ist ein Elchkopf!“ stichelte Tanja.
„Sag’s ihm nicht, sonst werden wir nächsten Sommer nach Finnland beordert und du kannst Bali ein weiteres Jahr verschieben.“, ermahnte Kurt seine Frau nur halb im Scherz.
Kurt war mit Ferdinand bereits zweimal nach Finnland zur Jagd gewesen. Ferdinand hatte einen alten Freund aus dem finnischen Finanzministerium, Matti Vaaltari. Sie kannten sich bereits aus einem Austauschprogramm. Matti und Ferdinand hatten sich an der Hochschule in Köln getroffen und Ferdinand hatte Matti gleich zu Beginn mit auf die Jagd genommen. Von da an waren die beiden unzertrennlich und jede freie Minute auf der Pirsch. Kein Mensch wusste wie sie ihre Prüfungen bestanden hatten, und das auch noch gut. Matti, der vorher nicht gejagt hatte, war fortan mit Passion Jäger und ergatterte sich vom ersten richtigen Geld ein Revier in Ost-Finnland im Grenzbereich zu Karelien. Und so trafen sie sich alle paar Jahre, mal in Finnland und mal in der Eifel. Eine alte und bewährte Jägerfreundschaft war entstanden.
Kurt und Tanja gingen den Flur entlang. Die Tür zum Salon stand offen und es drang ein heiteres Stimmengewirr hinaus. Kurt trat voraus in den Raum.
Links standen sein Bruder Klaus und sein Vater Konrad. Kurt wappnete sich für das was jetzt kommen würde. Tanja ließ er zu seiner Mutter Evelyn entfliehen.
Klaus sah ihn zuerst. „Brüderchen, hat dich die Wettbewerbsbehörde noch nicht wegen deiner dubiosen Gasimportverträge vorgeladen?“
Kurt nahm die Herausforderung an. „Und das von einem Rechtsverdreher wie dir. Wie viele Ganoven hast du denn diese Woche vor einer gerechten Strafe bewahrt." Sie schüttelten sich die Hände und lachten. Konrad stieß dazu: „Kurt, da schau einer an. Nur drei auf einen Streich, du lässt nach. MEIN Sohn, hätte sie alle vier gekriegt!“
Kurt seufzte. So war das immer in seiner Familie.
„Papa, ich musste doch eine für dich übriglassen. In fünf oder sechs Jahren ist die Sau so alt und tatterig, dass sogar du eine reale Chance hast, sie auf der Kirrung zu strecken.“
Sein Vater blickte ihn trotzig an. Bei Konrad wurde aus Spaß immer schnell Ernst.
„Was soll das denn heißen, bitteschön? Bleiben für mich am Ende nur noch alte Sauen übrig. Ich bezahle seit Jahren die Pacht und will, dass du mir etwas Kapitaleres erspähst, statt nutzlos im Wald herum zu pirschen und kleine Schweinchen zu strecken. Ich will endlich meinen Lebenshirschen erlegen.“
Kurt wusste dass es wenig Sinn hatte, das Spiel noch weiter mitzuspielen. Er fühlte sich zwar versucht seinem Vater die Stirn zu bieten, aber das würde ihn nur noch weiter reizen. Kurt war eben nicht der Lieblingssohn seines Vaters. Damit hatte er sich schon vor langer Zeit abgefunden. Er seufzte, winkte ab und sagte mit einem milden Lächeln: „Ich gehe dann mal dem Geburtstagskind gratulieren.“
Kurt wendete sich von den beiden ab und ging auf die Gruppe von Senioren zu, die sich vor der Bar postiert hatte. Ferdinand stand da im Kreis alter Freunde. Da waren Jäger, die selbst auf einen Geburtstag noch in Knickerbocker kamen. Anzugträger, die die Hände steif auf dem Rücken verschränkt hatten und nach Richtern oder Notaren aussahen. Damen, die zumeist zu einem der Herren gehörten. Der solarium-gebräunte, ewig grinsende, stellvertretende Bürgermeister durfte auch nicht fehlen. Er war gerade mit Ferdinand im Gespräch und es hatte den Anschein, als wolle er dem Onkel ein Auto verkaufen. Ferdinand war ein von Natur aus ruhiger und geduldiger Mann. Kurt wusste, dass ihm dieses Netzwerken zwar keine große Freude machte, aber seine Stellung brachte Verpflichtungen mit sich und Ferdinand stellte sich mannhaft.
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