„Korrekt!“ bestätigte Wilmar Arendt postwendend. Eine prekäre Situation, so war seine Erfahrung, entfaltetet die geringste Zerstörungskraft für den Verantwortlichen, wenn sie schnellstmöglich zugegeben wird. Er war sich auch bewusst, dass er als Verfassungsschützer in dieser Runde genügend politisches Kapital aufgebaut hatte, um einmal sagen zu können ‚ich weiß nicht!’. Es war aber auch genau die Antwort, mit der die Kanzlerin am wenigsten leben wollte. Deshalb hakte sie nach: „Wenn wir also nichts wissen, was zum Teufel nochmal vermuten wir denn?“
Darauf hatte Wilmar Arendt gehofft. Ein einziges Ass hatte er noch im Ärmel. „Die Israelis, der DGSI und der MI-5 vermuten einen Vergeltungsschlag gegen Frankreich oder Großbritannien. Eine Motivation könnte die langjährige Solidarität der Briten und der Franzosen zu den USA im Krieg gegen den Terror sein. Die Franzosen sind auf der Liste der gefährdeten Staaten aufgrund ihrer historischen Anti-Terror-Aktivitäten in Nordafrika. Die Briten sind die treuesten Partner der USA in Europa. Frankreich und Großbritannien haben neben Deutschland und Belgien die terroristisch aktivsten radikal-muslimischen Enklaven und die Netzwerke sind, dass muss ich zu meinem Bedauern sagen, sehr dicht und intransparent. Darüber hinaus hegen die Chinesen einen Groll gegen die Briten und die Franzosen, weil sie den US-Amerikanischen Antrag auf Verpflichtung der Rüstungsausgaben der NATO-Mitglieder auf die einschlägigen 2% des BIP unterstützt haben.“
Die Kanzlerin war noch immer besorgt.
„Warum sollten die Chinesen versuchen den Briten oder Franzosen zu schaden und dafür islamistische Terroristen zu instrumentalisieren. Sie sind doch - zusammen mit uns anderen Europäern - ihre Handelspartner. Mir leuchtet die Logik nicht ein. Was ist ihr Ziel?“
„Zum Ersten sind sie an den Waffengeschäften interessiert. Zum Zweiten beabsichtigen sie uns – der Verbund westlicher Länder - militärisch zu schwächen. Ihr Hauptkontrahent, wirtschaftlich wie militärisch, ist die USA. Ihre Hauptsorge ist, dass wir, die europäischen Mächte, uns mit den Amerikanern wieder zusammenraufen und unsere Differenzen begraben. Die Chinesen befolgen Sun Zu: ‚Erzeuge Streit unter deinen Feinden!’ Den größten Streit hat die USA mit Deutschland. Deswegen sind wir das unwahrscheinlichste Ziel. Die größte Solidarität erhalten die Amerikaner von den Briten, den Franzosen, den Nordischen Ländern und den Osteuropäern. Sie sind die wahrscheinlichsten Ziele, ... in der Reihenfolge. Wenn also diese Länder mit dem heimischen, islamistischen Terror beschäftigt sind, haben sie weder Zeit noch Energie der USA beim Eindämmen einer möglichen zukünftigen chinesischen Expansion in Asien zu helfen. Das ist die Logik.“
Das Gesicht Kanzlerin hellte sich erkennbar auf. Sie konnte zufrieden sein. Sie fragte nochmals abschließend: „Also wird es wahrscheinlich die anderen treffen?“
Arendt wusste, dass der Kelch an ihm vorübergegangen war. „Davon ist auszugehen. Jawohl, Frau Bundeskanzlerin!“
Siegrid Starcke lächelte zufrieden. Wenn sie eines im Vorfeld des Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung nicht brauchen konnte, dann war das eine Terrorwarnung. Arendt hatte die Sache abgebügelt. Es gab keinen Grund noch aktiv zu werden. Blieb da noch sein Kollege vom MAD, Bernd Höse. Porzig gab den Staffelstab weiter:
„Was sagt denn der MAD?“
Bernd Höse, für den diese Aufforderung sichtlich etwas überraschend kam, erschien zunächst unvorbereitet, fing sich aber recht schnell.
„Nun, ... grundsätzlich konzentrieren sich unsere Ermittlungen auf feindliche Agenten aus Russland. Seit der Besetzung der Krim und der Destabilisierung der Ukraine sind die Russen wieder unser Primärfeind. Wir erwarten nicht so schnell eine Invasion Chinas in Europa!“ Man konnte den Sarkasmus klar in seiner Stimme erkennen und er hatte die Lacher auf seiner Seite.
„Gleichwohl nehmen auch wir eine erhöhte Anspannung bei unseren Informanten war. Es scheint etwas im Busch zu sein.“
Arendt schloss die Augen. Alles was er bisher zur Beruhigung der Nerven getan hatte war durch diesen unbedachten Höse zunichte gemacht worden. Er betete still in sich hinein, Höse möge die verdammte Kuh, die er wieder aufs Eis geführt hatte, selber herunter kriegen.
„Die Russen haben bereits vor Jahren größere Truppenansammlungen an den Grenzen zur Ukraine, zu den Baltischen Staaten und Polen aufgehäuft. Jedoch werden keine erhöhten Aktivitäten aus den Stützpunkten der russischen Armee gemeldet. Es sind vor drei Tagen sechs Jagdfliegerstaffeln bestehend aus je acht Sukhoi Su-35S Mehrzweckjägern von Millirowo nach Selenogorsk verlegt worden. Mit diesen Geschwader können die Russen den Luftraum in eintausend Kilometer Umkreis um Leningrad beherrschen und mit dem Einsatz von Tankflugzeugen noch mehr.“
Otto fragte spitz: „Wollen sie damit sagen, die Russen beherrschen wenn sie wollen den ost-europäischen Luftraum?“
„Oh, ... das könnten sie bereits, seit die Amerikaner ihre F-22 abgezogen haben. Weder die Polen noch wir haben etwas Vergleichbares. Die amerikanischen Raptor-Staffeln stehen jetzt in Incirlik in der Türkei. Die Amis haben sie näher an den wahrscheinlichen Kriegsschauplatz in Asien verlegt. Uns hat das noch nie etwas ausgemacht. Russische Agenten jedenfalls werden von uns observiert und sind in der letzten Zeit unauffällig. Wir halten die russische Bedrohung Europas ohnehin für Panikmache, ... für reine Illusion!“
Hennys Magen verkrampfte sich, wusste sie doch aus ihrer NATO-Zeit, dass Deutschland mit dieser Ansicht alleine dastand.
Höse fuhr fort: „Solange die Russen keine weiteren Truppen mobilisieren, glaube ich, können wir beruhigt schlafen.“ Damit hatte auch er seinen Vortrag beendet.
Da war sie wieder, diese Kälte und diese Beklemmung. Wenn internationale Terrororganisationen Frankreich und Großbritannien im Visier haben, konnte das nur gut sein für Deutschland. Aber wenn Russland mit ins Spiel kommt wird’s ungemütlich. Und welches Spiel spielen die Chinesen? So richtig schlau wurde niemand aus den Berichten der Nachrichtendienste. Henny blickte in fragende Gesichter. Diesmal versuchte der Kanzleramtschef den Faden aufzunehmen und den Ball wieder ins Rollen zu bringen.
„Nun, falls es zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Fragen zu den Berichten der Nachrichtendienste gibt, würde ich aus Zeitgründen jetzt die Wehrbeauftragte des Bundestages aufrufen, die Fragen der parlamentarischen Verteidigungskommission zu präsentieren.“
Alle Augenpaare richteten sich auf Henny. Das Blut schoss ihr den Hals hoch und von einem Augenblick auf den Nächsten war ihre Kehle so trocken, dass sie keinen Ton herausbrachte. Sie nickte Paul Porzig zu und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Dann legte sie los. „Vielen Dank Herr Porzig, meine Damen und Herren. Ich hatte letzte Woche die Gelegenheit, mich mit dem Verteidigungsausschuss des Bundestages zu beraten und mein Vorgänger hatte bereits einige Erkundigungen in Richtung der nachrichtendienstlichen Situation im Inland angestellt. An dieser Stelle möchte ich den Präsidenten des BND für seine Zuarbeit danken. Der Fokus liegt hierbei auf die nachrichtendienstliche Komponente unserer Verteidigungssituation. Die Anfragen des Kontrollgremiums konzentrieren sich auf drei Punkte.
Erstens: Wie wird der Stand der Infiltrierung unserer nachrichtendienstlichen Organe, durch Terroristen einerseits und durch ausländische Agenten andererseits, eingeschätzt. Darüber hinaus wird gefragt, ob es beim MAD Hinweise oder Tatverdacht ausländischer Agententätigkeit bei den Truppen gibt? Diese Erkenntnisse werden in meinem jährlichen Lagebericht ‚Situation der Streitkräfte’ Berücksichtigung finden.“
Die Anfrage erzeugte eine gewisse Unruhe. Höse, Präsident des MAD rutschte auf seinem Sessel herum. Arendt vom Verfassungsschutz blickte versteinert ins Nirgendwo und Otto schmunzelte unauffällig, wendete aber niemals den Blick von ihr ab. Es wurde als Anfängerfehler gesehen, eine so plumpe und offensichtlich naive Frage zu stellen. Natürlich würden alle Dienste behaupten, es gäbe keine ausländischen Maulwürfe, weder in den Diensten noch in der Bundeswehr – geschweige denn Terrorristen. Auf diese Frage gab es für jeden Geheimdienst der Welt natürlich nur eine Antwort: ein Dementi.
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