Leung intervenierte: „Sie müssen die Frage anders stellen, lieber Yao. Warum sollten sie den Europäern helfen? Seit Jahren haben die Amerikaner den Europäern gesagt, sie müssen mehr für ihre Sicherheit tun und ihre Streitkräfte modernisieren. Sie wurden von den Europäern verlacht und ignoriert. Jetzt bezahlen sie die Zeche. Es gibt wahrscheinlich nicht einen einzigen Amerikaner, vor allem nicht im Weißen Haus oder im Pentagon, der nicht ein Gefühl der Genugtuung haben wird. Hinzu kommt, dass wir sie erpressen werden. Sollten sie sich einmischen, werden wir die Biowaffe gegen sie einsetzen. Das würde vielen Millionen Bürgern der USA das Leben kosten. Kein Präsident überlebt politisch ein solches Fiasko; das weiß Ace auch. Also wird er gute Miene zum bösen Spiel machen, wie das bei Taiwan auch der Fall war. Er hat keine Wahl.“
Nun war Yao still. Er hatte sich in Liu und Leung getäuscht. Offenbar wollten auch sie diesen Krieg, wolten die Karrierechance nutzen, die er bot. Yao stand auf einsamen Posten. Es begann ihm zu dämmern, dass Wong, Shi und Zhou die Mehrheit hinter sich hatten. Die Politiker hatten nun das sagen. Und sie hatten die Militärs mit ihren überdrehten Ambitionen angesteckt. Wer viel wagt, der viel gewinnt. Der leichte Erfolg von Taiwan hatte alle unvorsichtig werden lassen. Niemand spielte die unangenehmen Szenarien durch, alle sahen nur den möglichen Erfolg, nicht auch das mögliche Fiasko. Erfolg, heißt es, hat viele Väter. Alle wollten Vater dieses Erfolges sein. Niemand würde die Verantwortung übernehmen für das grenzenlose Scheitern dieses gigantischen Fehlschlags. Niemand würde sich ihm in den Weg stellen, außer Yao. Er war vielleicht alt, aber es steckte noch etwas Kampfgeist in ihm. Er würde sein Gewicht bei der Sitzung der Zentralen Militärkommission in die Waagschale werfen. Noch war hatten die Berserker nicht gewonnen. Liu sagte versöhnlich: „Trinken sie ihren Scotch, General und dann lassen sie uns etwas tun, von dem die Welt noch sprechen möge!“
Admiral Collingwood dachte Yao, während er an seinem Glas nippte. Der General kannte, wie alle Militärs, den Ausspruch des englischen Offiziers am Abend vor der Schlacht von Trafalgar. Yao wunderte sich nur, während er sein Glas leerte, ob sich irgendwer an Collingwoods jovialen Trinkspruch erinnern würde, wenn die Marine Napoleons gewonnen hätte.
Berlin Freitag, 12.09.2025 09:32 Uhr CET
Der gepanzerte Audi bog rechts ab in die Straße Alt-Moabit. Henny nahm ihre Aktentasche, die sie soeben auf den Rücksitz neben sich geworfen hatte, wieder zur Hand. Sie wollte sich vergewissern, dass sie alle Unterlagen dabei hatte – zum gefühlt siebzehnten Mal. Henny war aufgeregt, denn es war ihre erste ‚Kanzlerlage’. Sie war kürzlich erst als Wehrbeauftragte des Bundestages vereidigt worden und bei dem heutigen Termin handelte es sich schließlich um die wichtigste sicherheitspolitische Sitzung des Landes – und deswegen war sie nervös.
Henriette Nadenau, 32 Jahre alt und Majorin der Bundeswehr, war normalerweise nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Sie war eine Elitesoldatin und hatte bereits einen langen Weg durch die Ränge hinter sich gebracht. Nach dem Abitur wählte sie, zum Entsetzen ihrer grün-sozialen Eltern, den Weg des Berufssoldaten. In der Grundausbildung fiel sie den Ausbildern durch ihre Fitness auf, die sie sich in der Jugend durch Intensivsport in der Leichtathletik erworben hatte. Sie war eine der wenigen Soldatinnen, die zu den Fallschirmjägern wollte und ein Empfehlungsschreiben ihres Hauptmanns brachte sie in das Auswahlverfahren. Dort war man von ihrer Zähigkeit beeindruckt. Sie war bereit gewesen, die gleichen Prüfungen wie die Männer zu durchlaufen, ohne Gewichtsreduzierung und ohne Ausnahmeregelungen. Sie schaffte es sogar einen 85-kg Mann über die Distanz von zweihundert Metern zu tragen, und bestand das Auswahlverfahren. Es folgten die Kampfausbildung und mehrere Jahre beim Fallschirmjägerbataillon in Calw. Mit dieser Einheit hatte sie auch ihren ersten Auslandseinsatz 2015 bei der Ablösung französischer Einheiten in Mali.
Hier lernte Henny François Tibault kennen. Sie verliebte sich beim ersten Blickkontakt in den stattlichen Commandeur der französischen Eliteeinheit. Beide verbrachten jede der knapp bemessenen freien Stunden miteinander und unternahmen Ausflüge und Safaris. Sie liebten sich in seinem alten Defender am Ufer des Niger und in den Gueltas des Ifoghas-Gebirges.
Für Henny war es die schönste Zeit ihres Lebens. Sie war jung, hatte einen tollen, aufregenden Job und einen braungebrannten, französischen Liebhaber. Er ermunterte sie auch, ihre Karriere in Angriff zu nehmen.
Nachdem Hennys zwölf Monate Auslandseinsatz abgelaufen waren, wurde sie zurück beordert. François hatte ihr die politische Dimension ihres Berufes verdeutlicht und sie entschloss sich, im Anschluss an ihre Rückkehr Politikwissenschaften zu studieren. Nach Abschluss ihres Masters folgten die Entsendung zum Eurokorps und später die Abberufung zum deutschen Stab des SHAPE in Mons, Belgien. François hatte es geschafft, sich ebenfalls zu SHAPE versetzen zu lassen. Er hatte eine Position in der Ausbildungsabteilung für Spezialkräfte ergattert und sie zogen zusammen.
Bei der NATO hatte Henny begonnen, ihr Netzwerk nach Berlin auszubauen. Sie schrieb immer häufiger für ranghohe Offiziere Berichte und wurde in diverse Ausschlüsse entsendet. Später trug sie sicherheitspolitische Briefings für unterschiedliche Parlamentariergruppen vor und hatte ein gutes Händchen mit Politikern, was wichtig war, denn zu der Zeit waren Soldaten in Berlin nicht hoch angesehen. So wurde ihr Name immer wieder genannt, als es darum ging nach der Absetzung des Wehrbeauftragten schnellen Ersatz zu finden. Es war ungewöhnlich so kurz vor dem Beginn der neuen Legislaturperiode den Wehrbeauftragten zu wechseln, aber es war durch die Presse berichtet worden, dass ihr Vorgänger rechtslastige Aussagen während der Zeit seines Einsatzes bei der ISAF in Afghanistan zu Protokoll gegeben hatte. Er war daraufhin für nicht vertrauenswürdig erachtet und seines Amtes enthoben worden. Man einigte sich über Fraktionsgrenzen hinweg auf Henriette Nadenau, als neue Wehrbeauftragte des Bundestags.
Der Wagen fuhr über die Spree und rechts konnte Henny das immer wieder beeindruckende Bauwerk des Kanzleramtes sehen. Von der Willy-Brandt-Straße bog die Limousine rechts ab auf den großen Parkplatz vor dem nördlichen Verwaltungsflügel. Hier würde sie den Präsidenten des BND, Otto zu Rundstedt-Freyingen treffen. Otto oder ORF, wie er von Insidern freimütig genannt wurde, hatte angeboten sie durchs Amt zu geleiten.
Henny rief sich die Hintergründe der heutigen Kanzlerlage ins Gedächtnis. Die Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und der Bundesnachrichtendienst im Besonderen hatten in der vergangen Zeit viel politisches Kapital verspielt. Dieser Umstand, so wusste Henny, bereitete dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes zunehmend Kopfschmerzen, musste er doch dafür sorgen, dass sein Geheimdienst weltweit operativ blieb. Der Mossad hatte seit seinem Bestehen vortrefflich gezeigt, dass es im Geheimdienstgeschäft darum ging, Informationen zu beschaffen und gewinnbringend an andere Geheimdienste weiter zu verkaufen oder gegen Informationen, die für das eigene Land von größerer Bedeutung sind, zu tauschen. Diese Tätigkeit wurde für den BND durch die zunehmende sicherheitspolitische Isolation der Bundesrepublik Deutschland immer schwieriger. Hierüber hatte Otto heute der Kanzlerin, dem Innen- und Verteidigungsminister, den Chef des MAD und des BfV sowie diverser Staatssekretäre Bericht zu erstatten. Und natürlich der neuen Wehrbeauftragten des Bundestages.
Der Wagen fuhr vor und Henny stieg aus, nahm ihre Tasche und ihr Jackett und ging durch den Eingang ins Foyer des Kanzleramtes. Seitlich am Empfang erkannte sie Otto, etwa eins neunzig groß, graues Haar, seitlich gescheitelt. Eine rahmenlose Brille, ein dunkelblauer Anzug, eine dicke rot-beige gestreifte Krawatte und fertig war der Spitzenbeamte alten Schlages mit einer schmiedeeisernen, leicht arrogant wirkenden Selbstsicherheit. Dann trat Henny in sein Blickfeld. Er gab seinem Assistenten einen Klaps auf die Schulter und wandte sich der jungen Offizierin zu. Sein Gang war gemessen aber nicht steif, sein Lächeln gutmütig mit einer leichten Andeutung von Keckheit. Henny erwiderte das Lächeln, streckte die Hand aus und ging in die Initiative.
Читать дальше