„Haben sie ihn schon gesehen, Genosse?“ fragte Liu. Leung schüttelte den Kopf. Sie schauten hinaus auf das weite Feld, das sich vor ihnen erstreckte. Wie sollten sie ihn auch erkennen. Es waren so viele Truppen, die vor ihnen ein Routinemanöver abhielten.
General Liu ließ sein Fernglas sinken und zündete sich eine Zigarette an. Sein Blick schweifte rüber zu den Werkstätten, wo die Servicemannschaften emsig schraubten, schweißten, austauschten und betankten. Und die Fahrzeuge in ihrer Obhut gehörten zu den teuersten, schwersten und gefährlichsten landbasierten Waffen, die ein Mensch steuern konnte: Panzer.
Sie waren am nationalen Panzertrainingszentrum der Volksbefreiungsarmee (VBA) auf dem Truppenübungsplatz der 65. Defensiven Armeegruppe in Zhangjiakou, etwa 120 Kilometer nordöstlich von Beijing. Überall standen und fuhren Panzer. Geschossen wurde hier allerdings nicht. Nachdem ein orientierungsloser Panzergrenadier vor einigen Jahren irrtümlich die Tribüne beschossen hatte, war das Gelände für das Übungsschießen mit scharfer Munition weiter nach Norden verlegt worden. Schade eigentlich, dachte General Liu. Journalisten und Politiker waren immer mächtig beeindruckt von der Lautstärke und der Wucht einer Detonationswelle, wenn ein 125 mm Projektil in sein Ziel einschlug.
Liu Mu war General der Armee und kannte die Panzer. Drüben vor der Werkstatt standen einige Varianten neueren Typs, meist 88A oder 96. Auf einem Podest vor den Werkstätten hatten sie auch das alte Schlachtross des ehemals kommunistischen Blocks, den T-34, aufgestellt.
Leung hingegen, der Admiral war, sagten die Panzer nichts. Er zuckte nur mit den Achseln und schaute wieder durch sein Fernglas. Eine geschlossene Panzerformation bewegte sich vor ihnen, etwa 600 Meter von der Tribüne entfernt, in taktischer Formation von Ost nach West. In der rückwärtigen Flanke der Formation fuhr ein einzelner Panzer schnurgerade auf die Tribüne zu. Je näher er kam, desto klarer wurde, dass der Panzer mit vollem Karacho auf die Zuschauertribüne zugestürmt kam.
Leung nahm das Glas herunter und sagte zu Liu: „Da ist er! Er zieht gerade einen Stunt ab. Ich hätte ihm solche Kindereien in seinem Alter gar nicht zugetraut.“
Liu schaute durchs Glas und in seinem Gesicht machte sich ein belustigtes Grinsen breit. „Ja, ... das sieht ihm ähnlich!“
Der Panzer war bis auf 100 Meter herangefahren und machte einen Schwenk nach links. Die rechte Luke ging auf und heraus kam der Kopf des Generals. Er hatte eine Panzerfahrermütze auf, die wie eine Fliegermütze aussah, nur dass sie deutlich mehr wattiert war, damit man sich bei schneller Fahrt im unebenen Gelände im Panzerinnern nicht den Kopf an der niedrigen Decke verletzte. General Yao hatte ein seliges Lächeln auf den Lippen. Soldat sein, konnte so schön sein. Admiral Leung schaute General Liu an und zog die Augenbraue missbilligend hoch. Der Panzer machte nun eine Linkskurve und kam vor der Tribüne zum Stehen. Yao rief seinen Kollegen zu:
„Na, wie gefällt ihnen mein Panzer? 99-A2, das neueste Modell, 1.500 PS und 60 km/h! Im Gelände wohlgemerkt. Auf der Straße schafft er achtzig.“
General Yao kletterte aus der Luke heraus, sprang vom Turm und stieg erstaunlich agil vom Panzer herunter. Man hätte einem Achtzigjährigen eine solche Behändigkeit nicht zugetraut. Der General verschwand, in seinem Overall gekleidet, in den Bereich der Materialbarracken und Umkleideräume, der sich direkt unter der Tribüne befand.
Liu und Leung gingen von der Tribüne zurück in die geschlossenen Räumlichkeiten, die an öffentlichen Manövertagen der Presse und der Politikprominenz vorbehalten waren. Sie ließen sich in einer bequemen Couchlandschaft nieder und bestellten Tee. Einige Minuten später stieß Yao zu ihnen, nun in formaler Uniform. Er orderte einen Scotch und schwenkte genüsslich den Whiskey.
Admiral Leung fühlte sich hier draußen auf der Armeebasis nicht in seinem Element. Seine Welt waren U-Boote, Korvetten und Fregatten. Leung wollte nur so lange bleiben wie nötig und beschloss das Heft in die Hand zu nehmen. Er eröffnete die informelle Besprechung: „Nun mein lieber General. Sie haben uns hierher bestellt. Was brennt ihnen denn auf der Seele.“
Die Miene des Generals, die eben noch fast jugendlich fröhlich und sorglos erschien, verfinsterte sich. Er schnupperte das Bouquet des Whiskeys und nahm einen Schluck. Dann stellte er das Glas auf den tiefen Tisch zwischen ihnen.
„Meine Herren, sie können sich denken, warum ich sie hierher bestellt habe. Auf der kommenden Sitzung der Zentralen Militärkommission nächsten Montag wird entschieden, ob es mit diesem Wahnsinnsplan in die Realisierung geht oder nicht. Der Verteidigungsminister und sein Schoßhund Shi wollen diesen Krieg heiß und innig. Der Staatspräsident will ihn auch, glaube ich. Ich möchte wissen, wo wir in der Sachen stehen?“
Der Augen von Liu und Leung trafen sich. Sie wussten wo Yao stand. Das hatte er viele Male zuvor bereits kundgetan. Beiden war klar, dass der General skeptisch zu dem Plan stand. Nur, mit seiner Ablehnung stand er alleine dar.
Yao gehörte zu der alten Garde von VBA-Offizieren. Eigentlich hätte er vor zehn Jahren in Rente gehen sollen. Mit siebzig ist als Offizier in China Schluss. Doch es hatte sich beim letzten Generationswechsel, damals unter Xi Jinping, keine Mehrheit für einen Kandidaten finden lassen. Also hatte man Yao, der sich bester Gesundheit erfreute, im Amt belassen. Vor zehn Jahren befand sich Yao im Mainstream. Es war die Zeit der großen Modernisierung der chinesischen Streitkräfte, der Vorbereitung auf den Konflikt innerhalb der ersten Inselkette, dem Konflikt um Taiwan.
Man hatte damals erwartet, die Eroberung Taiwans würde einen lokalen Krieg mit der US Navy nach sich ziehen. Für einen solchen begrenzten lokalen Krieg - das Ausschalten der wichtigen Kommandostrukturen in Taiwan mit Marschflugkörper und luftbasierten Raketen, sowie der anschließenden amphibischen Invasion - hatte man sich gerüstet.
Und Yao war der Motor der Modernisierung gewesen. Er hatte den Fokus auf die Verschlankung der Streitkräfte gelegt und gleichzeitig auf die Integration von modernen Waffensystemen mit Kommunikationstechnologien, Nachrichtendiensten, Überwachung und Erkundungssystemen gedrängt. Alle Formen der zeitgemäßen Kriegsführung sollten zur Perfektion beherrscht werden. Im Mittelpunkt standen hierbei echtzeit-informationsbasierte Befehls- und Kontrollsysteme, die sich einer breiten Palette von konventionellen Waffentechnologien bedienen konnten: von konventionellen Land-, Luft- und Marinestreit-kräften, amphibischen Einheiten, Fallschirmjägereinheiten über ballistische Raketen und Marschflugkörper, Drohnen und Interkontinentalraketen bis hin zu Cybertechnologien und Antisatelliten-Systeme.
2020 war man soweit. Die Eskalation mit Taiwan wurde politisch eingeleitet. Als ihnen ein Jahr später Taiwan in den Schoß fiel, weil die USA sich aus dem Konflikt heraus gehalten hatte, war man fast enttäuscht gewesen. Zwar hatten die Taiwanesen in großem Umfang amerikanische Waffen eingesetzt und effektive Gegenwehr geleistet, doch die VBA konnte den Wiederstand schnell und mit erträglichen Verlusten überwinden und Taiwan erobern. Eine Konfrontation mit der immer noch mächtigen US-Militärmaschinerie war ausgeblieben. Die harte Prüfung der VBA an einem gleichwertigen Gegner musste vertagt werden.
Das war der Grund, warum quasi die gesamte Führungsschicht des Militärs heiß war auf einen zweiten Krieg: um ihre ganzen Spielzeuge im Einsatz zu sehen. Sie wollten erproben, wie gut ihre Integration gelungen war. Nur Yao alleine hielt das für eine schlechte Idee. So verlor der General zunehmend den Rückhalt bei den Truppen und der Führung. Und nun fragte Yao, wie Liu und Leung zu dem Krieg standen. Was sollten sie tun? Liu und Leung hatten beide noch mindestens zehn Jahre Dienst vor sich. Wie für jeden Offizier stellte die Aussicht auf einen Krieg eine Karrierechance dar. Wenn sie sich mit Yao verbünden würden, konnte das dazu führen, dass sie die nächsten zehn Jahre in Hausarrest verbrachten.
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