Und um das ging es heute: Krieg oder Frieden, wenn man die augenblickliche Situation so nennen konnte. Ein Krieg würde als ein Überdruckventil fungieren, um beim Volk Dampf abzulassen. Nichts eint ein Volk so sehr, wie ein äußerer Feind. Die Partei brauchte diesen äußeren Feind jetzt, um sich im Sattel zu halten und als legitimes Führungsorgan des Volkes zu gelten.
Der Schutzkorso des Staatspräsidenten Zhou Yinhong war von der Dongchang’an Jie abgefahren. Die drei Fahrzeuge bogen in die südlich verlaufende Zhengyi Lu ein. Rechter Hand lag das Ministerium für Staatssicherheit. Hier fand die Sitzung der Zentralen Militärkommission statt, dem Oberkommando der Volksrepublik China. Die Wagen umrundeten das östliche Gebäude und fuhren die Rampe zur Tiefgarage hinab. Ein Aussteigen auf dem pittoresken Vorplatz, von wo aus man an klaren Tagen die nach Jasmin duftenden Gärten des Kulturpalastes hätte sehen können, war nur noch selten möglich.
Die Sicherheitsleute stiegen aus dem vorderen und dem hinteren Fahrzeug aus und umstellten den Wagen des Präsidenten. Einer öffnete dem Präsidenten die Tür. Zhou stieg aus und drehte sich ohne zu Zögern – und ohne zu Atmen - auf dem Absatz und ging schnellen Schrittes in Richtung des Eingangs.
Das Gebäude war riesig, wie alle in der Umgebung des Tian’anmen Platzes. Sechshundert Meter in östlicher Richtung lag der Platz des himmlischen Friedens – der größte innerstädtische Platz der Welt. In seiner südlichen Hälfte lag das gigantische Mausoleum Maos. Als Junge hatte Zhou zum ersten Mal dort den einbalsamierten Leichnam des Staatsgründers gesehen und sein Wunsch war dort entflammt, eines Tages ein so bedeutender Mann wie Mao zu werden. Nun war er Staatspräsident, und die heutige Entscheidung würde ihn zum bedeutendsten chinesischen Staatsmann der Neuzeit machen oder zum größten Schurken der Weltgeschichte. Das hing vom Ausgang des Plans ab.
Er ging durch den Eingang in das kleine Foyer des Untergeschosses. Seine Bodyguards bogen rechts in den Wartebereich für Fahrer und Security ab, während sich Zhou weiter geradeaus hielt. Am Eingang zum Sicherheitsbereich wurde er von zwei Mitarbeitern des Ministeriums flankiert, die ihn fortan begleiteten. Hier im Innern des Gebäudes übernahmen die Ministeriumsangestellten die Security. Wie bei den meisten Geheimdiensten, misstraute man jedem, der nicht dem eigenen Haus angehörte.
Zhou kannte den Weg. Er bog rechts ab. Das Gebäude war ein langgezogenes L mit kühlen dunklen Gängen. Obwohl das Ministerium für Staatssicherheit eines der wichtigsten Ministerien des Landes darstellte, war es vergleichsweise spärlich ausgestattet und der graue Linoleumboden roch nach Ostblock-Amtsstube. Zhous Schritte schallten weit und lang-anhaltend durch die Gänge. Seine Wächter hatten Kreppsohlen und ihre Schritte waren unhörbar, was Zhou ein wenig irritierte. Aber nicht viel. Er hatte auf seinem langen Weg nach oben die meisten Behörden, Ministerien und Kasernen von innen kennengelernt. Er war, seit seinen frühen Tagen als Kadett der Volksbefreiungsarmee, ein integraler Bestandteil dieser Maschinerie der Macht geworden.
Auf dem Weg zu der wichtigsten Sitzung seiner Karriere ließ er vor seinem inneren Auge seine eigene Geschichte vorüberziehen. Es war die Geschichte des modernen China und der modernen kommunistischen Partei.
Zhou Yinhong war, wie fast alle Mitglieder des Politbüros, ein sogenannter „Princeling“, ein Abkomme des KP-Uradels. Schon sein Vater war Mitglied des Politbüros und gehörte dem Netzwerk um Jiang Zemin an, welches mal ehrfurchtsvoll, mal hämisch, die Shanghai-Clique genannt wurde. Seinem Sohn vererbte der Vater die politischen Kontakte und den Zugang zu den geheimen Netzwerken der Macht. Aus den familiären Zirkeln von damals, entwickelte der Vater für seinen Sohn die lange Kette von Verpflichtung und Gunst, die Zhou viele wohlwollende Mentoren und Gönner in höchsten Kreisen brachte. Im Gegenzug war Zhou seinem Vater, der Familie und - vor allem - der Partei zu Gehorsam und Aufopferung verpflichtet.
Das war der Deal.
Im Verständnis seines Vaters war man als Kommunist zuvorderst ein Kämpfer. Und jede Ausbildung eines Spitzenkommunisten begann mit der Stählung in der Armee. Also musste Zhou in der Offiziersschule der Volksbefreiungsarmee seine Ausbildung zum Offizier absolvieren. Ein Kampfeinsatz blieb ihm glücklicherweise erspart und er konnte nach zwei Jahren sein Studium der Rechtswissenschaften in Harvard aufnehmen.
Er war in Massachusetts zur Jahrtausendwende angekommen, als China seinen Aufstieg zur Supermacht begann. Er – der von Kindesbeinen an Privilegierte - trug schwer daran, wie mitleidig und herablassend er von den blaublütigen amerikanischen Ostküsten-Zöglingen behandelt wurde - als käme er aus einem afrikanischen Entwicklungsland mit steinzeitlicher Kultur. Doch die Armee hatte ihn Disziplin und Durchhaltevermögen gelehrt und er hatte die ur-chinesischste Tugend im Übermaß: Fleiß.
Einhundertstundenwochen sind auch in Harvard nicht die Regel. Mit Zhous zunehmenden akademischen Erfolgen schwand sein Zorn und stieg sein Selbstbewusstsein. Bald konnte ihm keiner mehr im internationalen Wirtschaftsrecht etwas vormachen. Er hätte eine sehr erfolgreiche Karriere in Washington, New York oder Genf machen können. Doch er war einen Deal eingegangen. Ihn zu brechen wäre undenkbar gewesen.
Also begann er seinen unaufhaltsamen Aufstieg in der KP. Trotz seiner überragenden Qualifikationen und seinem hervorragenden Netzwerk, war Zhous Weg von Gefahren, Intrigen, Eifersüchteleien und Feindschaften gepflastert. Wenn man in einem totalitären System zur Spitze aufsteigen will, muss man einen unbeugsamen Willen und eiserne Härte als Grundvoraussetzung mitbringen, dazu taktisches Geschick und die Fähigkeit, Menschen an sich zu binden. So gelangte Zhou nach oben. Das führte ihn hierher, zur heutigen Sitzung.
Er kam an die zweiflüglige Eingangstür des Sitzungssaals. Zwei Wachen mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen standen davor, salutierten und öffneten die Tür. Er trat in den Raum und sah zuerst auf die goldene Uhr an der gegenüberliegenden Stirnseite des Raums.
Punkt elf Uhr.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wenn schon alle anderen auf ihn warten mussten, wie es von jeher das Privileg des Präsidenten war, so wollte er aus Respekt vor seinen Kollegen stets pünktlich sein. So auch heute.
Die anderen zehn Mitglieder der Zentralen Militärkommission waren bereits aufgestanden und nahmen Haltung an. Zhou war als Präsident, nach den Regelungen der Kommunistischen Partei Chinas, Oberbefehlshaber der chinesischen Streitkräfte und allen Anwesenden waren ihm vom Rang her unterstellt. Doch seit den Eskapaden unter Mao hatte man sich entschlossen, militärische Entscheidungen gemeinschaftlich zu tätigen – hier in der Zentralen Militär-kommission.
Die anderen Mitglieder waren zu je fünf auf den beiden Seiten eines langen dunklen Konferenztisches platziert. Der Präsident saß an der Stirnseite. Drei Generäle und ein Admiral, die Kommandeure der Luftwaffe und der Befehlshaber der Raketen-Streitkräfte, darüber hinaus der Direktor der Militärlogistik und des Militärpersonals waren anwesend. Zuletzt vervollständigten der Verteidigungsminister und der Chef des Militärgeheimdienstes die Kommission.
Die wichtigsten Personen neben Zhou waren der Verteidigungsminister Wong Li und General Yao Guang, Oberkommandeur der Armee und ranghöchster Militär. Sie saßen links und rechts von Zhou. Je höher der Rang, desto größer die Nähe zum Präsidenten. Links neben Wong Li saß sein Intimus, Shi Deliang, der neben dem Militärgeheimdienstposten auch Vorsitzender der politischen Abteilung der Zentralen Militärkommission war. Auf der gegenüber liegenden Seite saßen General Liu Mu, Kommandeur der Landstreitkräfte und Admiral Leung Panmao, Held der Seeschlacht vor Taiwan, dann noch der Personalvorstand und der Direktor der logistischen Abteilung der Volksbefreiungsarmee. Links von Shi waren da noch der Direktor der Rüstungsabteilung und die Kommandanten der Luftwaffe und der nuklearen Raketeneinheit.
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