„Nicht so schnell, Haatsch. Du benimmst dich, als wären die nubischen Krieger hinter dir her.“ Ipus Blicke waren missbilligend, und obwohl Hatschepsut kaum erhoffte jemals etwas zustande zu bringen was Ipus Billigung erfahren würde, beschloss sie, langsamer zu gehen. Sie sind ja auch hinter mir her , beschwerte Hatschepsuts Herz sich voller Unruhe. Sie und Isis und Mutnofret und vielleicht auch mein schwacher Bruder, der jetzt, wo ich weit fort bin, ihrem vernichtenden Gift ausgeliefert ist. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben.
Der Hof, von dem sie bewusstlos unter den Augen der Soldaten heruntergetragen worden war, als die Wehen eingesetzt hatten, schien ihr unfreundlicher denn je. Ameni, der für sie gesprochen und ihr Verständnis geschenkt hätte, war nicht mehr hier. Sein Leib lag in einer Kiste mit Natron und fuhr auf einer Barke gen Theben, um dort im Schönen Haus für sein Weiberleben vorbereitet zu werden. Sie selbst hatte es sofort nach der Geburt Nofrures veranlasst und ihre Reiseschatulle geöffnet. Großzügig hatte sie Gold in Sarys Hände fließen lassen, um Ameni eine gute Bestattung zu ermöglichen. Hatschepsut wusste, dass es eine erbärmliche Bestechung für ein verschwendetes Leben war und für Sary kein Trost. Sie hätte Sary in Gold aufwiegen lassen können – er hätte ihr nicht verziehen. Aber Sary hatte die Lippen zusammengepresst und ihr Gold angenommen. Es hatte Hatschepsut nicht geholfen, sich besser zu fühlen, denn zu welcher Zeit wären Schuld und Leid jemals mit Gold zu begleichen gewesen? Sie wusste es, Sary wusste es, und die anderen, die einstigen Verschworenen, wussten es ebenfalls. Hatschepsuts Herz pochte und hämmerte, als sie in die teils vernarbten teils elenden Gesichter derjenigen sah, die mutlos und kraftlos in diesem Hof saßen. Sie schmolzen – alles an ihnen schmolz dahin und versickerte im Sand – ihre Herzen, ihr Mut und ihr Lebenswillen, sie zerklumpten zu schwarzem Brennharz, härter als Granitstein. War es bereits zu spät? In ihren Augen konnte Hatschepsut nichts erkennen, was vielleicht einmal menschlich gewesen wäre. Trotzdem wusste sie, dass sie zu ihnen sprechen musste, denn sie erwarteten es. „Ich bin gekommen, um das Unrecht zu sühnen, das an euch begangen wurde und um Kemet das zurückzugeben, was mein zu Osiris gegangener Vater erkämpft hat.“
Jetzt lachten sie, aber es klang trocken wie die Wüste. Einige von ihnen legten sich nieder wo sie waren, als hätten sie nur auf Hatschepsuts Worte gewartet, um endlich sterben zu können. Der Schweiß brach ihr aus den Poren und ihr Leib schmerzte immer stärker, obwohl sie glaubte, dass kein Schmerz dem derjenigen gleichkam, die vertraut hatten und betrogen worden waren. Vertraut mir, bei Amun! „Ich weiß, dass ihr glaubt, es ist nichts wieder gut zu machen, aber ich bin gekommen, um es trotzdem zu tun. Ich bin zu euch gekommen! Nicht war ich mir zu schade, mein Kind in einer Soldatenfestung zu gebären, noch bin ich zu stolz, den Weg mit euch zu gehen, der nun einmal beschritten werden muss. Wollt ihr denn, die ihr für meinen zu Osiris gegangenen Vater gestorben wäret, dass das Opfer derjenigen, die starben, vertrocknet, wie Wasser in der Wüste?“
Keiner von ihnen sah auf oder schien ihr zuzuhören. Stattdessen verachteten und verhöhnten sie Hatschepsut mit ihrem Schweigen. Verzweiflung drohte die Hoffnung in ihr niederzuringen. Amun, mein göttlicher Vater. Lege mir Gold auf die Zunge, auf dass ich die Wahrheit spreche, die ihre Herzen öffnet!
Ipu zog gleich einer Löwenmutter an ihrem Arm. Eine Gottesgemahlin musste sich das nicht zumuten. „Lass uns gehen, Haatsch! Sie werden nicht auf dich hören.“
Noch einmal suchte Hatschepsut ihre Blicke und versuchte durch die undurchdringlichen Mauern zu spähen, hinter denen all jenes lag, was sie zu lebenden Menschen und zu Söhnen des schwarzen Landes gemacht hatte. Als noch immer keiner von ihnen aufblickte, gab sie schließlich Ipus Drängen nach. Ipu zog und zerrte an ihrem Arm, fort ... fort von hier, du bist Amuns Tochter, schien sie ihr klarmachen zu wollen, doch dann bahnte sich etwas anderes in Hatschepsut seinen Weg, ein Gefühl so glühend und übermächtig, dass sie stehen blieb und ihren Arm von Ipu losriss. Hört endlich auf, an mir herumzuzerren! Was hatte sie eigentlich getan, dass diese Männer sie derart verachteten? Einen von ihnen geliebt, mit dem Herzen und dem Leib und einem Gemahl ein Kind geboren, den man ihr ausgewählt hatte. Nicht nur sie trugen Wunden vom Schlachtfeld davon, auch ihr Leib war eine einzige Wunde, von dem gleichen Mann geschlagen, den sie verachteten – auch sie war nicht gefragt worden, ob sie ihr Schicksal erfüllen wollte! Hatschepsut wandte sich erneut zu ihnen um, und ihre Stimme war nun ihrerseits voller Zorn und Verachtung. „Seht euch an! Ihr seid verletzt von dem Unrecht, das euch widerfahren ist, da der Horussohn euch schändlich behandelt! Und ihr lastet es mir an ... aber ich bin zu euch gekommen, obwohl in Theben viele sind, die mich ebenso vertreiben wollen wie euch. Was mich erwartet, wenn ich zurückkehre, lege ich in Amuns, meines göttlichen Vaters Hände. Aber ich werde nicht hadern um meinetwillen, und ich befehle euch im Namen des großen Gottes auf Erden, der mein Vater war, dass ihr euren Teil beitragt, die Maat im Goldland wieder herzustellen.“
Einige von ihnen sahen endlich auf, nicht überzeugt und auch nicht bestärkt, aber doch überrascht, da die Wut und Gewalt der Worte etwas war, das sie kannten – etwas, das ihnen vertraut war und sie daran erinnerte, dass jemand sie mit starker Hand geführt hatte. Hatschepsut war verwirrt, da sie auf einmal in aufmerksame Gesichter blickte. War es das, was sie brauchten? Soldatensprache und Befehle? Aber ja, denn das Schweigen eines kraftlosen Mannes hatte sie erkranken lassen. Hatschepsut, die endlich die Zunge der Soldaten zu verstehen begann, ließ ihnen keine Zeit wieder zu erschlaffen. „Ich bin die ungeliebte Gemahlin meines Bruders, die nicht weniger zu fürchten hat, als ihr! Aber ich gebe mein Bestes!“ Nicht betteln, gib ihnen Klarheit, wo sie sich verloren haben. Nun, so beschloss Hatschepsut, sollten sie Grübeln, ihren Weg aus der Dunkelheit allein finden, und dann wäre sie zur Stelle, um sie zu führen. Hatschepsut ging, ohne sie noch einmal anzusehen, und selbst Ipu wagte nicht, ihr Missfallen zu äußern. Was nutzte es, auf eine Herde von Ochsen einzureden, wenn sie nur die Sprache des Pfluges verstanden. Eine Stimme wurde hinter ihr laut, krächzend und rostig, als wäre sie lange nicht gebraucht worden - und spöttisch, aber nicht ohne Kraft. „Und was willst du tun, Gottesgemahlin? Dich auf einen Streitwagen stellen und mit uns gegen die Fürsten des Goldlandes ziehen?“ Müdes Lachen folgte den Worten, in das immer mehr Stimmen einfielen, auch sie rostig und ungelenk. Ein letztes Mal wandte Hatschepsut sich um und sah sie alle an, wie sie dort saßen, so selbstgefällig wie Greise. „Ja, das will ich tun!“
Sie griff nach Ipus Arm, ebenso fordernd und drängend, wie die Dienerin es sonst bei ihr zu tun pflegte, sodass dieser ein überraschter Aufschrei entfuhr. Und dieses Mal führte Hatschepsut ihre Dienerin fort, als wäre es niemals anders gewesen.
Sary presste das verbliebene Auge zu und lehnte den Kopf an die Wand. Es stank im Haus der Kranken, es stank nach Tod, nach Fäulnis und Verwesung. Obwohl der Leib seines Bruders schon längst auf einer Barke Richtung Theben fuhr, konnte er noch immer den Gestank des Todes riechen. Diejenigen, die hier lagen, zu denen sie nicht gesprochen hatte, sie verfaulten bei lebendigem Leib. Der eine am Stumpf seines Beines, dem anderen krochen Fliegen aus den rot und schwarz verfärbten Ohren ... es war eine Fäulnis so allumfassend, wie die ihrer Worte. Sary hatte sie gehört, verborgen im Schatten des Hauses, und er hätte ihr die Nase abschneiden mögen wie einer gewöhnlichen Ehebrecherin – dieser überheblichen Gottestochter, die ihren Schmerz mit dem seinen zu vergleichen wagte. Was hatte sie verloren - nicht ihr Auge, nicht ihren Bruder, nichts was von vergleichbarer Bedeutung war! Ihr Leib würde dereinst unversehrt zu den Göttern gehen, während Ameni blind, stumm und taub vor ihnen erscheinen musste. Als stünde sie vor ihm, krachte Sarys Faust gegen die Lehmziegelwand, das der Kalk absplitterte. Der überforderte Sunu sah ihn vorwurfsvoll an, wagte aber nicht, ihn zu tadeln. Nur ein Funke von einem Tadel, nur ein Wort hätte in diesem Augenblick ausgereicht, und Sary hätte seinem schwelenden Hass erlaubt sich zu entfesseln wie Sachmet, die zornige Löwin. Er hatte Ameni gesehen oder das, was von ihm noch übrig gewesen war, und seitdem wünschte Sary sich noch inbrünstiger, diese Frau mit seinen eigenen Händen zu töten und ihr Herz den Krokodilen vorzuwerfen. Schon vernahm er die Stimmen der Männer vom Hof, die zu zweifeln begannen und sich zu fragen, ob es denn nicht erbärmlich wäre hier im Staub zu hocken, wenn sogar eine Frau den Mut aufbrachte, sich auf einen Streitwagen zu stellen. Immerhin würde ihre Verweigerung auf der Waage des Totengerichts schwer wiegen, wenn sie vor Osiris traten. Sary hätte zu ihnen gehen wollen und sie anschreien. Seht ihr denn nicht ihr dummen Fellachen, dass es schon wieder geschieht? Jeden von euch wird sie in den Tod treiben, wie sie es mit Ameni getan hat! Aber Sary ging nicht zu ihnen, und er schrie sie nicht an – Sary schwieg, denn das süße Gift der Gottestochter tat bereits seine Wirkung. Er würde die armen Verblendeten nicht umstimmen können, dafür kannte er Haatsch zu gut – was sie wollte, bekam sie! Also musste er sich besinnen und damit beginnen Sinn zu suchen, wo er keinen zu finden glaubte. Mit Gewalt bezwang er seinen Zorn und fasste einen Entschluss. Wenn sie den Tod im Goldland suchten, würde er mit ihnen gehen. Was bedeutete ihm sein Leben, da er ebenso Schuld trug an Amenis Tod wie Haatsch. Vielleicht wollte Amun es so und Month und sogar die rasende Sachmet. Vielleicht forderten alle Götter Ägyptens sein Leben, weil er das seines Bruders geopfert hatte, um feige den eigenen Leib zu retten. Im Goldland, so wusste Sary, gab es viele Gefahren, die den Tod verhießen ... für ihn und auch für eine goldene Hure, die von einem lebenden Gott gezeugt worden war. Sary atmete tief durch und straffte die Schultern. Oh ja, es gab viele Gelegenheiten zu sterben, und der Tod würde Hatschepsut begleiten und sie aus Sarys verbliebenem Auge beobachten. Er würde eine Gelegenheit finden, sie zu töten! Danach – wenn alles getan war und wenn Sachmets Blutdurst gestillt wäre – würde er sein feiges Leben mit eigener Hand beenden und sein Herz bereitwillig von Ammit verschlingen lassen.
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