Am gruseligsten für den Berichterstatter während der Beweisaufnahme sind die Gedanken von Leuten, die ich die »Endzeitherbei-zwinger« nenne. Sie verdingen sich gern an machtgierige Gottlose, denen sie willkommene und nützliche Deppen sind. Selbst Rabbis können dazu gehören. Ausgehend von dem Gedanken, dass das Unrecht auf der Erde seinem höchsten Ausmaß zustrebt und deshalb ein Eingreifen Gottes kurz bevorstehen muss, schlussfolgern sie, dass sie als Auserwählte Gott zu einem vorgezogenen Eingriff nötigen können, indem sie das Unheil mit allerstärkster Grausamkeit und Gefühllosigkeit auf die Spitze treiben. Je mehr Gewalt sie verursachen, denken sie, desto eher kommt die Erlösung. Es muss alles zerstört werden, damit das Neue kommen kann. Gott hat da gar keine Wahl. Bei der Ausmalung der endzeitlichen Rachebilder sind die Zügel der Phantasie hingegeben. Gott als blutgeiler Baal, als Spiegelbild des eigenen Irrsinns. Nach dem großen Aufräumen soll als Belohnung ein paradiesisches Leben beginnen auf einer neuen Erde, unter einem neuen Himmel, zu dem ausschließlich die Auserwählten Zutritt haben werden.
Die Gotteserpresser wollen das Ende der Welt herbeizwingen und über das Leben von Myriaden Mitgeschöpfen verfügen, die sie nicht kennen. Mit solcher Lebensverneinung sind sie bereit, die gesamte Schöpfung Gottes verlustig zu geben. Ab in den Orcus mit ihr, als wäre sie das stümperhafte Werk eines unfähigen Demiurgen, dem der Obergott endlich den Befehlsstab aus der Hand nimmt. Dass sie selbst die Stümper sind, wird nicht gesehen. Es ist das der tiefste Abgrund an Schöpfungsverachtung, in den ich blicken musste.
Jegliche Hoffnung der Erdlinge erweist sich als Selbsttäuschung mit der Aufgabe, den vergeblich Hoffenden leidensfähiger zu machen. Ihre unentwegt gläubigen Erwartungen sind bei den Begüterten zu Mumien der Hoffnung geschrumpft, doch auch deren ausgepichtetste gehört zum Kehricht des Unerfüllten. Das Freiheitsgebot der Schöpfung hat im Ordnungswalten des Kosmos eine Missbildung aus falschem Denken zugelassen, das sich für ein paar Jahrtausende austoben darf. Es wächst zu einem Geflecht heran, das nach eigener Logik alles widersprechende Denken als unlogisch mit sich befiehlt. Der, dem es glückt, der Gewalt und dem falschen Denken zu entrinnen, hat einen so langen Kampf zu bestehen und soviel von sich hergeben müssen, dass er schließlich verbittert und kraftlos daraus hervorgeht.
Das gottferne Denken führt zu Taten, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gesetzen Gottes stehen. Dadurch erblüht eine Kultur des Unangemessenen, die in der wahnwitzigen Gewissheit gipfelt, dass die Menschheit das Diadem der Schöpfung sei. Als ob das Nichts ein Kleid bräuchte, wird von jeder Generation an der Fama von der einzigartigen und einmaligen kosmischen Stellung weitergesponnen. Ein Wunderwerk Gottes, geschaffen zur Erkenntnis und Sinnfindung, weiß mit sich nichts Angemessenes anzufangen. Kaum verstehen sie die einfachsten Dinge, und was auf der Hand liegt, finden sie nicht. Sie betrachten nicht, was sie tun, und begreifen daher nicht, was ihnen geschieht und warum. Sie erheben ein imaginäres Schicksal zum Herrn des Verfahrens und schieben ihm die Verantwortung unter den Sessel. Das Maß an Weisheit, welches dauerhaft zur Teilnahme an Gottes Schöpfung befähigt, das Minimum Sophiae, die Mindestvernunft, wird nicht erreicht. Was wird aus einem Agenten der Schöpfung, der sich für die Gottsuche als unfähig erweist? Welche Metamorphose wird kommen?
Das Nichtigkeitserleben frisst sich durch bis zum Grund der Seele. Dazu kommen die Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und umfassenden Alleinseins. Müdegehetzt, überbürdet und verstört erstarrt die Seele allmählich. Nicht mal das kleinste Gefühl regt sich mehr. Was noch bleibt bis zum Sterben, ist die zu völliger Ruhe gekommene Gleichgültigkeit nach innen und außen. Grundlos treibt alles dahin, entwertet ist jede Bewegung, durch nichts als Zufall gemischt. Und wenn dann das Sein zu Staub zerfällt, als wäre nie etwas gewesen, wird dies als echte Erlösung herbeigesehnt und begrüßt. Der Hauch, der alles verweht, tut der Seele einen Gefallen. Den einzigen, der ihr je erwiesen wurde. Meine Erde ist ein Ort, auf den eine Seele sich anfangs freute und dem sie am Ende entkam.
Das waren meine Gedanken in jener letzten Nacht von Jotapata. Ich hatte das kleine, unverzichtbare Gepäck geschnürt, das ich am dringendsten Euch, liebe Seelen, vorzulegen hatte, um es in die Reifung des Kosmos einzubringen. Es wird deutlich, warum ich meinen Bericht hier beginne und auf welches Fundament von Erkenntnis mein weiteres Nachleben gegründet ist. Die Begleitung der Sterbenden hat mich gelehrt, mein Denken auf nackten Felsen zu bauen, ohne Siedlungsschichten zwischen mir und dem Stein.
Eines gab es in Jotapata nicht. An keiner der dunklen, verschmutzten Wände stand mit Kreide geschrieben »niemand weiß von mir«, wie ich es einmal als junger Mann anderswo gesehen hatte.
*
Als ich nach der kurzen Rast aus unserer Bleibe hinaustrat, fand ich eine mildnächtige Idylle vor, die dem Verhängnis der Stadt präludierte, und die Tiefe der Ruhe schien mir von der Unausweichlichkeit des Kommenden zu künden.
Ich weckte Jakob, wir beteten und machten uns auf unseren Schleichweg. Fürs Erste mussten wir jeden Kontakt mit dem Feind vermeiden. Wir hatten uns der Belagerung mit drastischen Mitteln widersetzt, und wenn wir auf jemanden trafen, dessen Kamerad von kochendem Olivenöl überschüttet worden war, stand zu fürchten, dass er vor dem Abstechen nicht zu sprechen war. Egal, ob die Prämie für einen lebenden Feldherrn höher ausfiel als für einen toten. Auch konnten uns alle möglichen dummen und ungünstigen Zufälle ins Handwerk pfuschen. Nein, der Übertritt ins feindliche Lager durfte nur unter stabilen, überprüfbaren Umständen erfolgen, und dazu mussten am besten ein paar Tage vergehen. So lange wollten wir uns in einer trocken gefallenen Zisterne verstecken, die außerhalb der Mauern im Fels verborgen lag. Sie war von der Straßenseite aus nicht zu vermuten, und wer die Anhöhe erklomm, sah in eine steile Schlucht. Die Wasserleitung in die Stadt hatte man unter den Vorsprung gegraben, über den ein Suchender blickte, und neben ihr führte ein so schmaler Pfad entlang, dass Höhenangst nicht von Vorteil war.
Wir kletterten und huschten durch eingestürzte Mauern, unser Ziel war das erste Sammelbecken des Wasserkanals in der Stadt, das mit einem inzwischen zerstörten Haus überbaut worden war. Dort hatte ich den Deckel des Zugangslochs mit Schutt unkenntlich gemacht.
Der Schutt fehlte jedoch, der Deckel war blank. Das gefiel mir nicht, aber ich schwieg. Wir banden eine Schnur um einen schräg nach oben stehenden Balken, der eine sorgsame Schichtung von Trümmerteilen stützte. Nachdem wir uns hinuntergelassen hatten und der Deckel nahezu das Loch bedeckte, zog Jakob mit aller Kraft und die ganze Bescherung stürzte in sich zusammen. Um auf den Pfad neben der Leitung zu kommen, mussten wir die ersten zwei Dutzend Ellen durch den Kanal kriechen, der schlimmste Teil für mich. Aber es sollte noch ärger kommen. Nach wenigen Schritten wandte sich Jakob, der darauf bestanden hatte vorauszugehen, mit Besorgnis in der Stimme um.
»Der Weg ist weg.«
»Wie ... weg?«
Jemand hatte die Felskante auf einer Länge von zehn Ellen gewaltsam abgebrochen, bis dicht an die Leitung, augenscheinlich hatten fachmännische Hände geeignetes Werkzeug geführt. Nun schwante mir einiges, und mein Herz wurde schwer. Was war zu tun? Der Rückweg war versperrt, wir konnten kein Brett oder Ähnliches holen, um den Abgrund zu überbrücken. Es blieb nichts anderes, als uns an die Seitenwand des Kanals zu klammern und hinüberzuhangeln. Jakob schien von der Bodenlosigkeit wenig beeindruckt, er ging nicht davon aus, dass Gott seine Agenten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abstürzen lassen würde. Ich vermochte dem jungen Mann kaum zu folgen, setzte langsam Hand um Hand und sang leise vor mich hin: »Du hast mich aus dem Schoß meiner Mutter gezogen, Du hast mir Geborgenheit geschenkt an ihrer Brust, Dir bin ich anvertraut von Jugend an, von Geburt an bist Du mein Gott.« So schaffte ich es, meinen Schwindel über dem Abgrund zu bezwingen. Der weitere Weg bot keine Hindernisse mehr, und als wir die Zisterne erreichten, offenbarte sich uns der Grund für den umsichtigen Abbruch des Zugangs.
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