Die Vorgänge in der Provinzial-Arbeitsanstalt zu Brauweiler vor Gericht
(Mundbinde, Zwangsjacke).
In Kriminalmuseen werden die Folterwerkzeuge, die man im Mittelalter gegen Verbrecher anwandte, teils um sie für ihre Missetaten zu bestrafen, teils um sie zu »Geständnissen« zu bewegen, zur öffentlichen Schau gestellt. Wer mag nicht einen Schauer beim Anblick dieser Marterinstrumente empfinden und sich mit dem Gedanken trösten, daß derartige Vorkommnisse längst überwunden sind!
Allein das ist bedauerlicherweise eine arge Täuschung. Die Vorkommnisse im Aachener Alexianer – Kloster »Mariaberg« , in der »Fürsorgeerziehungsanstalt zu Mieltschin« , die Vorkommnisse in der sogenannten »Blohmschen Wildnis« und ganz besonders in der »Provinzialarbeitsanstalt« zu Brauweiler liefern den Beweis, daß unsere vielgerühmte Kultur nur oberflächlich ist und daß die Anschauungen des Mittelalters noch lange nicht überwunden sind. Ist es nicht geradezu beschämend, daß ein so geistig hochstehender Mann, ein Wissenschaftler ersten Ranges, wie der Geheime Justizrat Prof. Dr. jur. et theol. Kahl, ordentlicher Professor an der Berliner Universität, auf dem letzten (September 1912) zu Wien stattgefundenen deutschen Juristentag, für Beibehaltung der Todesstrafe eingetreten ist, weil – nun »weil die große Mehrheit des deutschen Volkes die Beibehaltung der Todesstrafe verlangt.« Und noch beschämender ist es, daß die große Mehrheit des deutschen Juristentages sich für die Beibehaltung der Todesstrafe erklärt hat. Zunächst ist es grundfalsch, sehr geehrter Herr Professor, daß die große Mehrheit des deutschen Volkes die Beibehaltung der Todesstrafe verlangt. Die letzten Reichstagswahlen haben den unwiderleglichen Beweis geliefert, daß ein sehr erheblicher Teil des deutschen Volkes sozialdemokratischen Anschauungen huldigt. Daß diese Leute nicht für die Beibehaltung der Todesstrafe stimmen, ist sicher. Aber angenommen, die Mehrheit des deutschen Volkes wäre für Beibehaltung der Todesstrafe, so würde dieser Umstand die Haltung des deutschen Juristentages noch durchaus nicht rechtfertigen. Eine Körperschaft wie der deutsche Juristentag soll sich nicht von der Volksmeinung leiten lassen, sondern dem Volke zur Kultur und Zivilisation die Wege ebnen. Wenn das Volk für Wiedereinführung der Prügelstrafe, des Feuertodes und ähnlicher mittelalterlicher Martern wäre, dann müßte, nach der Logik des Herrn Professors Kahl, der deutsche Juristentag sich auch hierfür erklären. Glücklicherweise herrscht in weiten Schichten des deutschen Volkes eine andere Anschauung, die trotz rückständiger Universitätsprofessoren und sonstiger reaktionärer, weltfremder Juristen, es verhindern wird, daß mittelalterliche Einrichtungen in unserem Vaterlande wieder Eingang finden. Herr Professor Kahl scheint eine Anzahl Stammtisch-Bierphilister für das deutsche Volk zu halten. Wenn Herr Professor Kahl und diejenigen Mitglieder des deutschen Juristentages, die seinen Ausführungen zustimmten, nur ein einziges Mal einer Hinrichtung beigewohnt hätten – ich war beruflich genötigt, etwa einem Dutzend Hinrichtungen beizuwohnen – dann wäre ihre Ansicht vielleicht eine andere gewesen. Ist den Herren nicht bekannt, daß vor Einführung des deutschen Strafgesetzbuches (1870) in mehreren deutschen Staaten, wie Anhalt, Oldenburg, Bremen und Königreich Sachsen, die Todesstrafe abgeschafft war und daß sie vom Januar 1866 bis August 1878 in Preußen nicht angewendet wurde? Im Januar 1866 wurde in Berlin der Zuhälter Louis Grothe, der 1864 in einer Kellerwohnung am Oranienplatz den Lehrer der italienischen Sprache, Professor Gregy, ermordet und beraubt hatte, hingerichtet. Von da ab weigerte sich König Wilhelm I., ein Todesurteil zu unterschreiben. Erst am Morgen des 16. August 1878 wurde in Preußen wieder eine Hinrichtung, und zwar an dem 21jährigen Klempnergesellen Max Hödel vollzogen. Hödel hatte bekanntlich am Nachmittag des 12. Mai 1878, als Kaiser Wilhelm I. mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise von Baden im offenen Wagen aus dem Berliner Tiergarten die Straße Unter den Linden entlang fuhr, mit einem Revolver auf den greisen Monarchen geschossen. Obwohl der Schuß fehlgegangen war, zumal er, wie der Kgl. Hofbüchsenmacher August Barella begutachtete, mit diesem Sechsmark-Revolver gar nicht hätte treffen können, so wurde Hödel am 10. Juli 1878 vom Preußischen Staatsgerichtshof wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Der alte Kaiser war am 2. Juni 1878 von Dr. Karl Nobiling Unter den Linden mit Schrot in den Kopf geschossen worden und lag in sehr bedenklichem Zustande zu Bett. Er hatte die Regentschaft seinem Sohne, dem damaligen Kronprinzen, späteren Kaiser Friedrich, Vater des jetzigen Kaisers Wilhelm II., übertragen. Der Kronprinz weigerte sich, das Todesurteil wider Hödel zu unterschreiben. Der damalige Reichskanzler Fürst Otto v. Bismarck drang aber derartig in den Regenten, daß er sich schließlich zur Unterschrift herbeiließ. Seit dieser Zeit hat die Todesstrafe in Preußen und auch im übrigen Deutschland wieder praktische Gestalt angenommen. Jeder Kriminalist weiß, daß fast alle Mörder die Todesstrafe der lebenslänglichen Zuchthausstrafe vorziehen. Abgesehen von den vielen vorgekommenen Justizmorden, ist die Hinrichtung eine solch grausame Strafart, daß alle Gesitteten mit vollster Energie für die schleunige Aufhebung dieses mittelalterlichen Strafmittels eintreten müßten.
Ich kehre nun zu meinem eigentlichen Thema zurück. Die heutige Gesetzgebung beschränkt sich nicht auf Gefängnisse und Zuchthäuser, sie hat auch »Fürsorgeerziehungsanstalten« und Arbeitshäuser geschaffen. Die Fürsorgeerziehungsanstalten sind als Erziehungsinstitute für jugendliche Personen beiderlei Geschlechts bis zum 21. Lebensjahre gedacht, sobald diese jungen Menschen der elterlichen und auch sonstigen Erziehung ermangeln und die Gefahr besteht, daß sie Schädlinge der menschlichen Gesellschaft werden könnten. Die Arbeitshäuser sind eine alte Einrichtung, in die ältere Leute beiderlei Geschlechts zur Besserung überwiesen werden, insbesondere Prostituierte, Zuhälter und Bettler. Bis zur Einführung des Fürsorgegesetzes kamen auch Kinder ins Arbeitshaus. Beide Einrichtungen sind keine Strafanstalten, sondern nur als Besserungsanstalten gedacht. Ob aber aus diesen Anstalten schon jemals ein Insasse gebessert hervorgegangen ist, kann mit Recht bezweifelt werden. Schuld hieran haben die Beamten dieser Anstalten, die zumeist ihre Aufgabe vollständig zu verkennen scheinen. Die Brutalitäten eines »Pastors« Breithaupt und anderer Hausväter mit ihren Schergen, genannt Aufseher oder gar »Erzieher«, bilden leider keine Ausnahme. Dies ist wohl auch die Ursache, daß die Angeklagten nicht das Gefängnis oder Zuchthaus, wohl aber die »Fürsorgeerziehungsanstalt« und noch mehr das Arbeitshaus fürchten. Lieber ins Zuchthaus, als in die »Fürsorgeanstalt« oder ins Arbeitshaus, diesen Ausspruch kann man fast täglich in den Gerichtssälen hören. Und das ist keine landläufige Redensart, sondern bitterer Ernst. Pflicht der Behörden wäre es, in dieser Beziehung schleunigst energischen Wandel zu schaffen.
In der Nähe der rheinischen Metropole Köln befindet sich die Provinzialarbeitsanstalt Brauweiler, in der stets mehrere hundert »Korrigenden« beiderlei Geschlechts Aufnahme finden. Der Direktor Schellmann, der gleich dem Pastor Breithaupt die christliche Barmherzigkeit stets auf den Lippen hatte, schien ebenfalls noch nicht die Anschauungen des finsteren Mittelalters überwunden zu haben, sondern der Ansicht zu sein, daß man durch Prügel, Hunger und Marter aller Art die Menschen bessern könne. Eines Tages wurde einem jungen Mädchen, namens Wodtke, das Herrn Direktor Schellmann zum Zwecke der Besserung überwiesen war, »wegen Renitenz«
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