Von hier oben sahen die Vögel über den Baumkronen wie winzige, schwarze Punkte aus, die sich scheinbar nicht bewegten, während sie über den Wald flogen. Eric überlegte, wie es wohl wäre, einen von ihnen zu kennen. Er hatte schon oft gesehen, wie Papageien oder Beos lernten, ein paar Worte zu sagen. Niemals könnte er Tiere ihr Leben lang in einem Käfig einsperren. Für ihn selbst war die Gewissheit, immer irgendwohin verschwinden zu können und einen Ausweg zu haben, fast das Wichtigste in seinem Leben. Seine Freiheit könnte er für nichts hergeben, niemals. Kein Mensch konnte das wollen. Aber sie taten es mit Tieren und selbst untereinander aus niedersten Motiven heraus, nahmen Freiheit, sperrten ein oder verkauften und versklavten, physisch und geistig und vermutlich auf jeder Ebene, die sie sonst noch irgendwann entdecken könnten. Eric dachte an Crow und wünschte sich, der wäre jetzt bei ihm und könnte sich dieses Wunder einer Landschaft ansehen. Crow hatte genau das Gegenteil getan. Er war zu denen gegangen, die ihm nahe erschienen und hatte sie nicht einfach zu sich geholt oder eingefangen. Er hatte eine Entscheidung getroffen, obwohl am anderen Ende seine eigenen, liebenden Eltern standen, welche dadurch zu kurz gekommen waren. Was auch immer ihn mit den Vögeln verband, es musste sehr mächtig sein. Ob jene Krähe, welche er vor ihrer Abreise entdeckt hatte, wohl jemals mit Crow Kontakt haben würde?
Erics Gedanken flogen ziellos umher, erkundeten die Erinnerungen seines Lebens, trafen sich irgendwo, suchten nach Lösungen für Probleme, fanden welche oder fanden keine. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und der Schnee auf dem schmalen Felsvorsprung links unter ihm begann in ihrem Licht zu leuchten und reflektierte bald so viel davon, dass Eric wegsehen musste. Es war wunderbar, hier oben unerreichbar in ungeahnter Höhe zu sitzen. Dann trafen sich wieder zwei seiner Gedanken: Vor dir ist nur Wald, bis zum Strand, links und rechts auch. Und hinter dir? Eric wunderte sich. Er war doch hierher geflogen und hatte dabei unweigerlich in die Richtung gesehen, welcher er jetzt den Rücken zukehrte. Aber er erinnerte sich nicht, war viel zu betäubt gewesen. Um das Gleichgewicht zu halten, breitete er die Flügel aus und nutzte den starken Wind, drehte sich langsam und vorsichtig um. Als er sich wieder sorgfältig festgeklammert hatte, warf Eric einen Blick zum Horizont.
Ein dunkler Streifen, gräulich oder schwarz. Und er bewegte sich sichtbar. Eric erinnerte sich sofort. Die Strudel aus finsteren Wolken, wie langsame Wirbelstürme. In seinen Träumen hatten sie das Licht eingesogen und alles unter sich begraben und erstickt. Eric lief ein kalter Schauer über den Rücken, die Zacken und Stachel auf seinem Panzer erzitterten. Dies war vielleicht das allererste Mal in seinem Leben, dass er die mysteriöse Dunkelheit wirklich würde erkunden oder berühren können. Sollte er vielleicht hinfliegen? Er spürte, wie der Drache in ihm sich regte. Ja, er sollte. Der Hunger kam jäh zurück, überrollte ihn wie die Wellen eines Meeres. Doch ihm war auch klar, dass er anderswo erwartet wurde. Also nicht jetzt. Und schon gar nicht allein, in einer unbekannten Welt. So kehrte er zum ersten und vielleicht interessantesten Gedanken zurück. Wo befand er sich eigentlich? Es konnte nicht die Erde sein, soviel war sicher. Eine fremde Sonne, ihr Licht war irgendwie anders. Und fremde Monde, von denen er bereits zwei kannte. Da das Meer aber so stabil gewirkt hatte, erwartete Eric schon fast, dass es noch mehr Trabanten gab. Skepsis. Er kam schon wieder mit dem Verstand an ein Ende. Es wurde langsam Zeit, alles zu erfahren, was er in dieser Welt brauchen würde. Es behagte ihm nicht, sich auf einem fremden Planeten so dicht vor einem Phänomen zu befinden, welches er seit Jahren immer wieder erlebt hatte und von dem er trotz all der Zeit nur eines wusste: Es bedeutete ein quälendes, schmerzhaftes Ende. Es sei denn, er änderte etwas. Soviel hatte Eric verstanden, doch das brachte neue Fragen. Er schüttelte sich kurz, löste die Umklammerung der Felsspitze mit seinem Schwanz und stürzte sich in die Tiefe.
Die Flügel dicht am Körper anliegend beobachtete Eric die ersten Baumkronen des steilen Abhangs, wie sie scheinbar immer schneller auf ihn zu flogen. Es war ein wirklich hoher Berg. Er zählte die Zeit, seine Augen maßen sorgfältig die Entfernung. Drei Kilometer, vier, fünf … Die Zahl wuchs und wuchs, Schnee und Eis lösten sich auf, aus trockenen Gräsern wurden Nadelbäume, unter welche sich schließlich alle möglichen Pflanzen mischten und als er bei elf Kilometern angelangt war und schon seit einigen Minuten flach am Steilhang nach unten schoss, kamen die Bäume plötzlich so schnell näher, dass er einen Schrecken bekam. Eric breitete die Flügel aus und fing seinen Fall in einem großen Bogen ab, stieg in einer langen, eleganten Kurve wieder aufwärts und hielt sich schließlich wenige hundert Meter über den Baumkronen, die im Licht der Mittagssonne aus solcher Nähe noch viel leuchtender wirkten.
Er sauste über den Ewigen Wald, der sich gerade eben als nicht ewig entpuppt hatte. Zwischen den Bäumen war der Waldboden kaum zu erkennen, aber sobald Eric einen Blick werfen konnte, sah er haufenweise Pilze und manchmal sogar kleine Bäche und Flüsse. Er erkannte etwas, das sehr ähnlich wie ein Hirsch aussah, der gerade sein Geweih an einem der Bäume rieb. Doch das Tier war locker fünfmal so groß, wirkte sehr stark und schwer. Der ganze Baum erzitterte und dicke, schwere Späne brachen laut krachend aus dem moströsen Stamm. Seine Klauen kribbelten. Beute … Nicht jetzt. Wie konnte das Leben hier jenem auf der Erde so sehr ähneln? Man musste eine Verwandtschaft annehmen, bei dem Aussehen und der Form. Gleichzeitig wirkte es zuerst sehr unwahrscheinlich, dass sich die Natur auf diesem Planeten so auffallend gleichartig zu der auf der Erde entwickelt haben sollte. Auch die Pflanzen zeigten große Ähnlichkeit, sie wirkten jedoch generell etwas größer und kräftiger. Eric erinnerte sich an die sichtbare Erdkrümmung über dem Meer auf der Erde und dem Meer hier. Der Unterschied war klar. Dieser Planet war größer, hätte vielleicht andere Rhythmen von Tag und Nacht. Und nach dem, was er so sehen und fühlen konnte, gab es so gut wie ausschließlich wildes Leben und Nahrung im Überfluss. Entfaltung wäre hier höchstens unter Pflanzen ein Problem, aber nicht für Tiere oder Wesen, welche sich fortbewegten und von ihnen ernährten. Genug Nahrung … Eric schnaubte genervt, als dieser Gedanke ihn erneut durch ein Zucken der Kiefermuskulatur an seinen immensen Appetit erinnerte. Er verliebte sich in diesen Wald, spürte dessen Kraft und Fähigkeit, zu beschützen und zu heilen. Die Luft hier war so unglaublich rein, dass selbst halbwegs bekannte Dinge und Stoffe so anders rochen und schmeckten, dass Eric aus der Faszination kaum herauskam. Er hob wieder den Kopf und beschloss, einen Bogen um die Route zu fliegen, die er vermutlich auf dem Hinweg genommen hatte. Er drehte scharf nach rechts, beschleunigte und zog sich mit heftigen Schlägen dichter unter die kleinen, weißen Federwolken.
Seine tief schwarzblauen Schuppen reflektierten die Sonne nur zum Teil, den viel größeren Rest der Energie nahm er in sich auf, atmete sie förmlich ein. Der feuchte, duftende Atem des Waldes, der Geschwindigkeitsrausch der Freiheit und all dies fast völlig lautlos, abgesehen von den verhaltenen Klängen des Lebens überall in der Umgebung … Besser ging es nicht. Eric erreichte beinahe die Hälfte jener Geschwindigkeit während der Anreise, aber dieses Mal hatte er einen klaren Kopf und nahm alles auf, prägte sich jeden Baum und jedes Blatt ein und stellte fest, dass manche Bäume einen Hauch von goldenem Glanz auf ihren Blättern trugen. Sie wirkten wie metallisch glitzernde Skulpturen mitten im Wald, alle paar Kilometer konnte er einen dieser merkwürdigen Riesen erspähen.
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