Eric schloss die Augen. Er sah ja trotzdem was, aber so konnte er sich besser konzentrieren. In Gedanken schützte er Mia und Jack fast instinktiv mit einer Hülle aus Licht, damit sie nicht zerdrückt würden. Sekunden später stellte er fest, dass sie tatsächlich gerade von einer Art Kraftfeld umgeben wurden, welches sich wie eine dicke und kaum sichtbare Luftblase um die beiden herum aufbaute. So ließ er alle Dämme brechen und überließ sich dem stürmischen Trieb, schneller zu werden als er Energie würde nachlegen können, als wollte er durch Manou hindurch fliegen und ihn so schlichtweg zerfetzen. Als er ein merkwürdiges Brennen in den Flügeln spürte, legte er sie etwas mehr an und erkannte, dass die Luft um sie herum sehr heiß wurde. Es war nicht schmerzhaft und Eric ließ sich von jener Kraft, welche ihn fortbewegte, immer weiter antreiben. Es waren längst nicht mehr seine Muskeln, sondern etwas direkt in seinen Flügeln, was ihn beschleunigte. Kurz darauf spürten sie eine heftige Erschütterung und es wurde ruhiger. Die Schallmauer war durchbrochen, doch sie wurden noch schneller.
Die Umgebung verschwamm langsam, sie hatten die Nebelwand hinter sich gelassen und abrupt ließ der Widerstand der Feuchtigkeit nach. Da spürte er das Land, die Küste. Und einen unendlichen Wald. Nach kurzer Zeit konnte Eric kaum noch etwas erkennen und öffnete wieder die Augen, welche mittlerweile von einer dicken, zweiten Haut geschützt wurden, welche alles leicht golden einfärbte. Es sah aus, als ob er auf eine mit Ölfarbe gemalte Landschaft hinabblicken würde, über die jemand einen nassen Lappen gezogen hätte. Alles, was nicht mindestens einen Kilometer entfernt war, wirkte so verschwommen, dass er gerade noch die verschiedenen Bäume erkannte. Er spürte, wie seine Augen sich daran gewöhnten und die Sicht immer schärfer wurde, doch es war ihm egal. In Mias Gedanken sah Eric nichts weiter als einen fast einfarbigen Untergrund und Jack sah gar nichts mehr. Ihre Augen waren zu träge. Vor Wind und Hitze geschützt durch jene flimmernde Schicht einer unbekannten Energieform hielten sie sich fest, waren wie berauscht und hatten keinen Einfluss auf das, was geschah.
Eric stellte sich die Karte vor und bemerkte, dass er bei dem Tempo in Windeseile zig Kilometer zu weit fliegen würde. Er beschleunigte noch immer, spürte so etwas wie einen merkwürdigen Druck in seinem Bauch. Dünne, haarfeine Leuchterscheinungen zuckten durch seine Flügelhäute, sein Maul war wie zugenagelt und jeder Muskel steinhart gespannt, Nüstern und Atemlöcher fast verschlossen. Die zweite, dicke und schützende Haut über den empfindlichen Augen wurde langsam angenehm warm. Wie ein riesiger, stählerner Pfeil schoss er starr durch die Luft, welche um sie herum langsam zu glühen begann.
Eric strengte seine Sinne an und entdeckte eine riesige Lichtung, auf der das Zentrum jener Stadt war, von der er vor Kurzem geträumt hatte. Kurz scannte Eric die Umgebung, beobachtete mit einem Anflug von Neugier, dass sich noch mindestens einen Kilometer in jede Richtung Wiesen, Plantagen und Gebäude versteckt unter den Baumkronen befanden. Nach wenigen Sekunden richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf den Flug und schoss in einem Kilometerlangen Bogen aufwärts, sah in diesem Manöver die einzige Chance, ihre Geschwindigkeit aufzufangen und am richtigen Ort zu landen. Er erkannte, dass die nun auftretenden Fliehkräfte für Mia und Jack noch eher verkraftbar waren als ein gewaltsames Abbremsen auf kurzer Strecke, was ohnehin zunehmend unmöglicher erschien.
Mia konnte Erics Gedanken nicht lesen. Als sie und Jack voller Schwindel und Sorge sahen, wie sich der Boden rasend schnell entfernte und die Atmosphäre bald hinter ihnen liegen würde, fühlten sie sich selbst innerhalb des mächtigen Kraftfeldes nicht mehr sicher, als ob sie sich außen an einer startenden Rakete festklammern würden. Als jedoch die Geschwindigkeit nach Minuten endlich abgebaut war und Eric dann einfach umdrehte und sich fallen ließ, entfuhr Mia ein kurzer Schrei. Sie befürchtete, dass er sich umbringen wollte. Der Boden kam nach einer Weile so schnell näher, dass für ihren Verstand keine Zeit für eine Warnung blieb. Alles, was sie und Jack nun empfanden, war eine fremdartige Leere. Ein Gefühl der Machtlosigkeit im Angesicht jenes unvorstellbaren Aufpralls, der sie schon sehr bald erwartete und gleichzeitig eine Art Rausch, angefacht von der unglaublichen Aussicht und dem Gefühl völliger Schwerelosigkeit und feuriger Hitze. Eric jedoch wusste, was er tat. Die Wut pulsierte wild und heiß in seinem Körper, doch er riss sich zusammen, verfeuerte ihre Macht und gefährliche Energie im Flug, wollte ihr keine Chance bieten, andere Dinge anzurichten. Etwa einen Kilometer entfernt sah er etwas glitzern, auf der riesigen Lichtung im Wald.
Als sie in der Morgenröte durch eine seichte Wolkenschicht hindurchfielen, sahen sie von weitem aus, wie ein kleiner und blau leuchtender, fallender Stern. Mit geschlossenen Augen sah Eric dieses Bild vor sich, es regte eine Art Erinnerung in ihm an doch er verdrängte den Impuls, konzentrierte sich auf seinen Tastsinn. Knapp zwei Kilometer über dem Boden öffnete Eric die Flügel und drehte sich so, dass die Füße nach unten zeigten. Die Schwingen wie Bremsschirme gespreizt, verzögerte er so stark, dass Mia und Jack ohne die schützende Hülle aus Licht sicher über die scharfen Zacken auf seinem Rücken hinüber und in die Tiefe gerutscht wären. Da sie auf seinem Rücken saßen und sich flach an ihn pressten, sank ihnen das Blut nun schlagartig in die Beine. Beide kämpften mit der Bewusstlosigkeit und Jack war der erste, den sie erwischte. Eric war immer noch viel zu schnell. Niemals würde dieser Luftwiderstand ausreichen, um heil unten anzukommen. Noch neunzehn Sekunden.
Eric rief den Wind, als hätte er das schon allzu oft getan, spürte ihn eisig unter den Flügeln und in seiner Schnauze. Er erzwang einen heftigen Unterdruck, welcher die Luftmassen in der Umgebung rapide in Bewegung versetzte. Strömungen aus allen Richtungen türmten sich säulenartig unter ihnen auf, kaum zehn Sekunden später schlug ihnen wie aus dem Nichts ein Sturm entgegen, welcher Unmengen kleiner Steine, Halme, Erdklumpen und Getreide vom Feld unter ihnen mit sich riss und ihnen buchstäblich um die Ohren schmetterte. Doch sie wurden tatsächlich langsamer, bis der magische Sturm sie anhielt und abflaute. Sanft und leichtfüßig wie eine Katze landete Eric auf den Hinterbeinen im aufgewühlten Boden und fing den Rest an Schwerkraft mit ein paar schnellen Schritten auf.
Es wurde langsam still, die Luft beruhigte sich und ein geisterhaftes Rauschen fegte über das Feld. Eric nahm eine Fülle an bekannten und unbekannten Sinneseindrücken wahr, sein Tastsinn lieferte massenhaft Informationen über die unbekannte Erde, auf welcher sie standen. Doch er ignorierte all das und hielt seinen Geist davon ab, sich zu verselbstständigen. Fast wäre ihm die Kontrolle entglitten, als seine Nüstern die ersten Aschepartikel einsogen und seine Zunge die feinen Aromen von verbrannten Materialien aufschlüsselte. Noch ehe ihm völlig klar war, wie sich der Geruch zusammensetzte, zerbrach für Eric die Hoffnung. Es war tatsächlich zu spät. Was der Wind zu ihnen getragen hatte, war mehr als nur der Qualm eines Ofens oder eines kleinen Feuers, da war sich Eric sicher. Wenn er überhaupt etwas kannte, dann Asche.
Als er spürte, dass Jack zu sich kam, löste Eric die schützende Hülle um seine Mitreisenden auf und forderte von Mia und Jack, abzusteigen. Die ließen sich das nicht zweimal sagen, im Nu waren sie unten, eher gefallen als abgestiegen landeten sie weich in der feuchten und aufgewühlten Erde. Jack, noch immer sehr benommen, fiel auf die Knie und erbrach mitten auf dem großen Getreidefeld, im vom Sturm hinterlassenen Chaos. Mia taumelte mit den Decken und Sätteln im Arm herum und versuchte, ihre Beine und ihren Magen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Beide waren geschockt und kurz vor dem Zusammenbruch, noch gar nicht in der Realität angekommen und unfähig, sich aus dem drückenden Rausch zu befreien und sich klarzumachen, dass sie wieder sicheren, festen Boden unter den Füßen hatten. Ihr Gleichgewichtssinn war kaum noch zu gebrauchen. Eric beobachtete abwesend, wie die Beiden das Gefühl hatten, flach auf dem Boden zu liegen, obwohl sie sich mühevoll aufrecht hielten.
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