Eric nickte und sah sich daraufhin flüchtig Jacks Gedanken an. Der schlief wieder. Schräg rechts neben ihnen, weit am Horizont, glitzerten die ersten, purpurnen Sonnenstrahlen auf dem Meer. Eric spürte die Magnetfelder der Erde, beobachtete die klar sichtbare Krümmung am Horizont. Er wunderte sich schon wieder, wo er dieses Bewusstsein hergenommen hatte. Die Lösung war einfach. Er hatte es immer besessen, bloß nie bewusst benutzt. Doch jetzt gerade war Eric gedanklich eher bei seinen Flügeln, welche ihm eben eine sonderbare Reaktion auf das letzte Mondlicht gezeigt hatten, welche Mia und Jack scheinbar gar nicht mitbekommen hatten. Eine Verbindung zwischen Mond und Erde, einen Verstand dafür. Und irgendetwas passierte mit dem Mondlicht, wenn es auf seine Flügelhäute traf. Er hatte es deutlich gespürt, konnte es nur nicht richtig fassen und schon gar nicht beschreiben.
Trotz ihrer ständigen Veränderung gaben die Magnetfelder ihm zu jeder Zeit ein Gefühl für ihre Höhe, Richtung und sogar für die Tiefe des Wassers und den Meeresgrund. Sie leiteten ihn so sensibel, Eric hätte mit geschlossenen Augen fliegen können. Warum eigentlich nicht? Er wusste, dass zum Beispiel Delfine immer nur mit einem Teil ihres Gehirns schliefen, um mithilfe der anderen immer wieder an die Oberfläche zu schwimmen und Luft zu holen. Vielleicht klappte das ja auch bei ihm? Als er sich kurz entspannte und ihm klarwurde, wie automatisch sich tausende Muskeln für den Flug bereits bewegten, wagte er einen Versuch. Er verließ sich auf seine Schnauze und seinen Tastsinn, schloss die Augen. Seine Gedanken entspannten sich, alles wurde irgendwie weicher und ruhiger, fast schon diffus. Das Rauschen des Windes trat in den Hintergrund, sein Bewusstsein rückte immer näher an sein tiefstes Inneres und verlor die Außenwelt aus dem Fokus. Doch er spürte jede Veränderung in seiner Umgebung und wusste genau, dass etwas Unerwartetes ihn sofort aufwecken würde. Bloß nicht gewaltsam träumen, dachte Eric. Wohltuender Halbschlaf stellte sich ein und das Bild von Mia erschien in seinen Gedanken.
»Schön, dass du eine Lösung gefunden hast. Aber sei vorsichtig. Halte dich von Gewittern und Stürmen fern. Gute Nacht, ich werde auch schlafen.«
Manou und seine Krieger huschten durch den Wald. Kein Ast bewegte sich unter ihren Füßen, kein Vogel rührte sich. Genau das Gegenteil eines normalen, frühen Morgens. Der Herrscher war wirklich mächtig.
Dieser Teil des Ewigen Waldes grenzte direkt ans Meer und erstreckte sich über mehrere tausend Meilen in jede Richtung. Dann kämen andere Teile des Forstes, unüberschaubar in Vielfalt und Ausdehnung. Hier lebten jedoch die meisten der verbliebenen Menschen und Tiere, welche sich noch nicht ergeben wollten. Doch das würde sich bald ändern, da war sich Manou sicher. Denn er selbst würde dafür sorgen. Die Gestalten hinter ihm unterhielten sich leise mit einander, freuten sich auf den nächsten Anschlag. Gleich hätten sie Malaan erreicht, eine der einflussreichsten Städte und Zentrum der Zivilisation. Zufluchtsort für alle freien Menschen und Wesen aus umliegenden Gebieten des Waldes. Eine Hochburg des Widerstandes, Ursprung der stärksten Allianz zwischen wilder Natur und zielstrebiger, sozialer Intelligenz. Ein Hindernis und Ärgernis für den Herrscher, seit Anbeginn der Menschheit in dieser Welt. Doch schon bald würde die Stadt fallen. Zweifelsfrei ein selbst gemachtes Schicksal. Heute käme nur eine Warnung, schmerzhaft und bitter, gewaltig. Denn anders lernten sie nicht. Nur mir Schmerz.
Der lange Wanderstab in seinen Händen machte ihn gefährlich, Manou fühlte sich groß, stark und unbesiegbar. Er war schon gar kein richtiger Mensch mehr, in den letzten Tagen hatte sich vieles zu seinen Gunsten verändert, gierig und gehorsam studierte er die Künste und Mächte der Finsternis. Was waren schon die Regeln? Niemand hielt Manou, den treuesten Diener der Sechs, einfach so auf. Niemand! Sie wehten an den ersten Häusern und Hütten vorbei, lautlos und ungesehen näherten sie sich dem Stadtkern. Minuten später erschien endlich die Lichtung im Dämmerlicht der ersten, warmen Sonnenstrahlen. Es blieb sehr still, die meisten der jämmerlichen Menschen mussten sich in ihre Hütten zurückgezogen haben und würden erst später ihren Tag beginnen. Manou lachte. Heute garantiert früher als sonst, denn Feuer wartete nicht. Sie waren verwundbar wie Faultiere, schwach wie Fliegen und doch waren sie lästiger als jede Art von Parasiten oder Schwärmen. Aber sie ließen sich entfernen, Stück für Stück. Er dachte nach. Das heutige Ziel? Jene Gebäude, in welchen die Jugendlichen sich aufhielten, Kinder und Heranwachsende. Sie waren potenzielle Gegner und hatten somit in Manous Zukunft keinen Platz. Er gab seinem Gefolge ein Zeichen und sie verflüchtigten sich wie Dampf.
Kaum noch sichtbar verließen sie den Waldrand und schlichen durch die Stadt, immer weiter in Richtung Zentrum, vorbei an den vielen verschiedenartigen Hütten und Häusern. Ein unerfahrener Wolfshund bellte wütend und mit einem Schwung des Stabes, der rot zu glühen begann, verstummte das Tier für immer. Manous Männer lächelten. Bevor man sie entdeckt hätte, wäre alles längst getan. Endlich, nach vielen leisen Schritten über die sandigen Wege, kamen sie zu einem der größten Gebäudekomplexe. Hier befand sich der Nachwuchs. Die Jugend dieser Hölle, bereits jetzt indoktriniert und somit an die Illusion von Licht und Recht verloren, sowie Asylanten aus fernen Gebieten. Abschaum, dachte Manou. Auch gab es in diesem riesigen Bereich Schulen und andere ähnlich naive Dinge.
Manou blieb stehen, während sein Geleit ihn sorgfältig bewachte und von der Umgebung abschirmen würde, sollten sie doch rechtzeitig entdeckt werden. Mit beiden Händen hob er den kunstvoll verzierten Stab über den Kopf und schloss die Augen, ignorierte konzentriert den Schmerz an seinem linken Arm, wo sich eine Narbe vom Handrücken bis zur Schulter zog. Ein Geschenk des Drachen, wie Manou zu sagen pflegte. Der Drachenjunge hätte ihn lieber gleich töten sollen, doch so war das eben mit den Menschen. Sie gaben einem noch eine Chance. Immer wieder. Sie lernten einfach zu langsam. Die Sechs hatten ihn geheilt, doch die Verletzung kam ohne ständige Behandlung immer wieder zum Vorschein, wäre bei längerer Unachtsamkeit garantiert tödlich und würde ihn qualvoll richten. Ein letzter Gedanke an die Belohnung, die ihn nach dieser Tat erwartete, dann rief Manou alle Kräfte des Rates und des Herrschers zusammen und richtete das dicke Ende des Stabes auf die Bauten.
Seath, die Großmeisterin der Stadt, kam gerade mit einem Korb voller Äpfel von der Plantage zurück. Die frühe Ernte war die beste. Diese ständig wechselnden Lichtverhältnisse ließen die Erträge von Jahr zu Jahr kleiner werden, aber sie reichten vielleicht noch, um dieses Jahr die Speicher zu füllen. Bald würde es keine genießbaren Süßäpfel mehr geben, falls die Gärtner keine Lösung finden und die Gewächse robuster machten könnten. Als sie bemerkte, wie plötzlich alles Leben in den Bäumen und dem umliegenden Wald verstummte, beeilte sie sich zurück. Deutliche Anzeichen drohender Gefahr und Gewalt. Sie schickte jeden zurück zum Tempel, der sich nicht allein würde verteidigen können. Als sie das Gebäude fast erreicht hatten, bebte die Erde. Der Staub auf Dächern und Wegen überall in der Stadt wurde aufgewirbelt und ein markerschütternder Knall, begleitet von einer brutalen Druckwelle, riss sie von den Füßen und schmetterte sie hart gegen die Mauer einer kleinen Hütte.
Ein warmes Glimmen vor ihren Augen weckte sie, Seath schreckte auf und stellte sich sofort hin. Die Bewusstlosigkeit musste sehr kurz gewesen sein, die gewaltige Explosion trieb gerade einen flammend wuchernden Rauchpilz in den rötlichen Morgenhimmel. Ein tobendes Feuer begann rasch und erbarmungslos um sich zu greifen und in der finster verrußten, staubigen Luft alles in warmes Licht zu tauchen. Der schwarze Qualm begann bereits, die ersten Überlebenden zu ersticken. Seath streckte den linken Arm aus und konzentrierte sich, verscheuchte den Qualm und die Asche mit einem heftigen, magischen Aufwind. Dann lief sie zu der Stelle, an der sie das Unglück vermutete.
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