Hunger, Durst. Als Eric von Neugier überflutet an der pulvrigen, schwarzen Substanz des Quaders leckte, erstarrte er augenblicklich. Körper und Geist reagierten mit einem Mal so heftig auf den verkohlten Brocken, dass er sich keinen Meter mehr bewegen konnte. Das blaue Feuer in ihm wurde blendend hell, die Hitze schoss ihm durch den Kopf wie ein Orkan und seine Flügel erglühten kurz beißend hell und heiß. Seine Umgebung wich einer anderen, Eric sah einen Sturm schwarzen Staubes, durchsetzt von höllisch heißen und dünnen Feuerwirbeln und Strömen aus Licht, welche sich in einem einzigen Punkt sammelten. Ein kleiner, schwarzer Drache stand auf dem felsigen Boden eines Tals, welches ausschließlich aus diesem dunklen Gestein bestand. Er schien die Felsen zu zersetzen, plötzlich explodierten die unüberschaubar hohen Felswände und verwandelten sich ebenfalls in das, was wie ein schwarzer Sandsturm aussah. Es war, als wollte der Staub ihm entkommen. Doch das kleine Tier ließ nicht nach, wanderte unaufhaltsam vorwärts und zog die schwarzen Massen an wie ein übermächtiger Magnet. Es absorbierte jene finstere Energie darin bis aufs Letzte und hinterließ nichts als toten, tiefschwarzen Schutt und Sand. Eric erkannte eine Art Kern im Inneren des Drachen, bald das Einzige, was blau glimmend in der Dunkelheit zwischen den vereinzelten, merkwürdigen Feuern zu sehen war. Das dunkle Wesen wuchs mit jedem Schritt, die Augen begannen, brennend heiß zu glühen.
Als die Spannung nachließ, fiel Eric beinahe hin. Einer seiner Flügel klatschte auf die Wasseroberfläche und als er ihn erschrocken anhob, rannen dicke Ströme des Wassers wie heiße Wasserfälle herunter. Eric war sich sicher: Das war eine Erinnerung. Keine Einbildung, keine visualisierte Angst oder eine Art Warnung. Es war Vergangenheit, er spürte es, klammerte sich fest an diese Gewissheit und begriff dennoch nicht, was er gerade gesehen hatte. Schlagartig entschied er sich, dies für sich zu behalten, war sich mit dem Drachen absolut einig, dass niemand diese Erinnerung sehen durfte. Denn was auch immer er da gerade gesehen hatte, es zeigte ihn selbst, als er noch jünger war. Als der Drache noch viel kleiner war. Und das müsste eigentlich unmöglich sein, wollte man dem glauben, was er als Mensch bisher erlebt hatte. Eric richtete sich wieder auf, sein Feuer ließ den Stein unter ihm leicht schwelen, das Wasser in unmittelbarer Nähe war kochend heiß. Er trank einen Schluck, dann machte er sich auf den Rückweg, erfasst von einer seltsamen Spannung und Klarheit. Wieder und wieder ließ er die feurigen Eindrücke in sich kreisen, verinnerlichte jedes Detail und jedes Bild, hielt daran fest und versuchte, die Urgewalt an Eindrücken zu entziffern. Erneut spürte er ein betäubendes Kribbeln im Kopf. Die Erinnerung wurde schwächer.
Langsam kamen die Anbauflächen zwischen den Bäumen in Sichtweite und Eric sah sofort das große Getreidefeld mit dem kleinen Krater. Erst jetzt erkannte er bewusst, wie groß die Pflanzen waren. Nun würde er dort wohl kaum landen, er suchte nach dem hellen Glitzern, welches er während ihres Sturzfluges erhascht hatte. Überall zwischen den mehr oder weniger dicht stehenden Bäumen waren Häuser, Hütten und Felder angelegt, wunderbar geschützt im Wald und dennoch gab es genug Sonne dort unten. Je weiter man sich ins Waldesinnere bewegen würde, desto dichter stünden wieder die Bäume und schon bald wäre man von oben nicht mehr zu sehen. Als er etwas höher stieg um den Winkel zu möglichen Sonnenreflektionen zu ändern, blitzte in der Ferne tatsächlich ein heller Punkt auf der riesigen Lichtung im Wald, etwa einen Kilometer entfernt. Eric sah genauer hin, erkannte Gebäude und Bewegungen dazwischen. Menschen. Stumm änderte er die Richtung und näherte sich. Er war zwar auf Luftlinie nicht mehr weit weg, flog aber einige Kilometer hoch und so war es doch noch ein ganzes Stück. Da gerade kaum Wolken im Weg waren, beschloss Eric, vorerst oben zu bleiben. Er wollte nicht gesehen werden.
Nach den Feldern war eine Obstplantage angelegt, alles aneinander angrenzend und von der Plantage, auf der eine Menge großer Bäume und Stauden standen, führte ein langer Weg direkt zur Stadt. Die Häuser, welche eher den Ferienwohnungen aus Skagen ähnelten, waren zum Teil aus Lehm gebaut, andere aus Holz oder Stein. Es gab kaum einen offensichtlich einheitlichen Stil, als wären zig verschiedene Kulturen und Lehren auf einer Lichtung vereint. Genau in der Mitte der Stadt stand ein riesiges Bauwerk, erhoben auf einem großen Hügel. Es sah zu Erics Erstaunen selbst nicht sehr hoch aus, im Vergleich zu seinen sonstigen Ausmaßen. Rund um das Bauwerk führten mehrere breite Treppen den Hügel hinunter, auf jeder der Treppen bewegten sich die Menschen nach oben oder zurück in die Stadt. Auf dem Dach befand sich eine komplexe und gewaltige Spiegelkonstruktion, welche offensichtlich genau das war, was Eric von weitem hatte glitzern sehen. Als er auf seiner langsamen Kreisbahn weiterflog, erkannte er, dass jenes Gebäude von Säulen gestützt wurde, die denen aus Griechenland oder Rom sehr ähnlich waren. Sie schienen im Boden zu versinken. Ein großes Portal wurde sichtbar und langsam erkannte Eric detailliert und scharf einige Menschen, die sich auf den sandigen Wegen der Stadt bewegten. Vielleicht war das der Tempel, an welchen jemand in seinem letzten Traum gedacht hatte. Sofort begann er, die Umgebung nach Merkmalen aus dem Traum abzusuchen. Als die letzte Wolke sich langsam auflöste und er einen riesigen Krater entdeckte, wurde ihm mulmig zumute. Schließlich begann er doch, sich dem Boden zu nähern.
Eric war immer noch knapp fünfhundert Meter vom Zentrum entfernt und segelte nun in kaum zwei Kilometern Höhe langsam weiter. Klänge aus der Stadt wurden deutlicher und seine Augen erkannten plötzlich die von Seath, jener Frau, welcher er in seiner Vision gefolgt war. Sie goss gerade die Pflanzen vor einer Hütte, vielleicht ihrer eigenen. Die Sonne, welche schon etwas tiefer stand, warf einen riesigen Schatten, der schnell über den Boden huschte. Sie bemerkte es doch konnte den Urheber gegen das Sonnenlicht nicht sehen. Er kreiste über der dicht bebauten Lichtung, beobachtete Strukturen und die Netzwerke aus verschieden beschaffenen Wegen. Ihm wurde klar, dass jenes riesige Gebäude mit den Spiegeln tatsächlich exakt im Zentrum der Lichtung lag und von großen, freien Grasflächen umgeben war, auf denen sich nur vereinzelt winzige Hütten befanden. Zu klein, um drin zu wohnen. Was wohl darin war? Egal. Sieben breite und helle Wege führten gerade vom Zentrum, dem Tempel, in alle Richtungen und fächerten sich später in kleinere Abzweigungen auf, welche sich schließlich zwischen den unzähligen Gebäuden der Stadt verloren. Wie ein Spinnennetz waren die schmaleren Wege angelegt, von außen nach innen und in großen Ringen, sodass man von überall her schnell überall hingelangen konnte und nie Probleme haben würde, das Zentrum zu finden. Eric prüfte die großen Wiesen. Die perfekte Landemöglichkeit. Er erspähte eine Art Schale, geschätzt zehn Meter im Durchmesser, scheinbar mit Früchten und Getreide gefüllt. Eric wunderte sich, flog weiter Kreise und atmete bei der nächsten Gelegenheit bewusst und großzügig den Wind ein. Ja, es waren Früchte. Süß und frisch, der Geruch war wunderbar und der Zucker ließ seinen Hunger sofort wieder aufkeimen. Auf derselben Fläche, in der Nähe des riesigen Einganges zum Tempel und der Schale, erspähte Eric eine kleine Person, ihm zuwinkend und gen Himmel zeigend. Eric hörte eine bekannte Stimme, durch die Entfernung spitz und leise.
Jack schrie Erics Namen, konnte seinen Bruder in Gedanken nicht erreichen, da der sie noch immer verschlossen hielt. Eric sah eine Schar anderer um ihn herum, alle hielten sich die Hände vor die Stirn, um besser gegen das Licht der Sonne sehen zu können, was da im Anflug war. Dass er sich näherte, schien sich unglaublich schnell zu verbreiten. Mehr und mehr Wesen sammelten sich in Jacks Nähe, blickten nach oben und erkannten die große, tiefschwarz wirkende Gestalt erst, als Eric tiefer sank und nicht mehr scheinbar direkt vor der Sonne schwebte. Sie wichen aus, als er seine Kreise enger zog und sich steil nach unten fallen ließ, ehe er aufsetzte und trabend direkt auf die große Menge zu kam, völlig fasziniert von den Gebäuden und dem ganzen Gefühl der Umgebung. Sie machten ein paar Schritte zurück, aber Eric hielt an, als er Jack vor sich hatte. Er sah ihm in die Augen und Jacks Erleichterung war deutlich. Endlich hatte sein Freund die alte, geduldige Laune wieder. Das ließ auf ein gesünderes Zusammenleben hoffen als er und Mia es am Ende ihrer Reise hatten erleben müssen. Eric neigte den Kopf und schnupperte an seinem Gefährten, der ihm freudig einen Klaps auf die überempfindliche Schnauze gab. Eric zog sie erschrocken zurück und schnaubte, als sich das Kribbeln durch seinen ganzen Kopf bewegte. Er hörte Jacks Gedanken.
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