»Endlich. Eric, ich wirklich gedacht …«
Jack beendete seinen Satz nicht, die Umstehenden kamen langsam näher und schlossen sie ein. Es wurden stetig mehr, waren bereits jetzt über tausend. Eric hob den Kopf und sah über die gewaltige, schnell wachsende Ansammlung hinweg, er fühlte sich bedrängt. Er und Jack standen nun in der Mitte eines riesigen Ringes wimmelnder Neugier, doch niemand wagte sich wirklich nahe an ihn heran. Eric wurde schnell klar, dass keiner von ihnen jemals einen lebendigen Drachen wie ihn gesehen hatte. Keiner wusste, was zu erwarten war. Doch er spürte, dass es außer Neugier und Faszination auch jede Menge Sorge, sogar Furcht gab. Seine Erscheinung war einschüchternd, die Hitze aus seinem Inneren noch immer gewaltig und seine Reaktion auf jede noch so kleine Regung zeigte deutlich, dass er eine seltsame, hungrige Anspannung verspürte. Langsam wurde es ruhiger, nach Minuten bekam Eric das Gefühl, sie würden ihn schon fast wie eine Art Alien studieren.
Überwältigt von dieser Menge sah sich Eric langsam um. So viele Menschen … Ihre Gesichter wirkten ausnahmslos so, als würden sie fast ihr ganzes Leben draußen unter freiem Himmel verbringen. Alle wirkten wachsam und im Grunde offen, irgendwie müde. Der Anschlag vom Morgen hatte Spuren hinterlassen und doch spürte Eric genau, dass niemand auch nur ansatzweise etwas empfand, was nach dem gewaltsamen Verlust von tausenden jungen Leben zu erwarten war. Wie war das möglich? Niemand zeigte tiefe Trauer, keiner scherte sich besonders um den Rauch. Im Gegenteil, hinter ihrer Müdigkeit verbarg sich eine fast trotzige, erleichterte Widerstandskraft. Etwas ließ sie hoffen. Sie wirkten dankbar. Wofür? Und an wen richtete sich ihr Dank? Als Eric einen kleinen Jungen entdeckte, welcher von fast allen anderen getrennt neben ihm stand, drehte er sich zu ihm um und machte unbedacht einen Schritt auf ihn zu. Ein Raunen ging durch die Menge, eine hochgewachsene Frau ging zu dem Kind und nahm es an die Hand, schaute Eric nur vorsichtig an. Eric blieb stehen. Behutsam brach er in die Gedanken des Kindes ein, sah klar und deutlich das Feuer und die Explosion darin, spürte Angst und die starke Erschütterung im Boden. Doch offenbar war der Kleine in sicherer Entfernung gewesen. Plötzlich fühlte Eric eine Art Druck in den Zähnen und war sofort wieder hellwach, ließ von den Erinnerungen des kleinen Jungen ab. Gefahr.
Eric richtete sich auf und sah sich um. Die Hitze in seinem Inneren wurde Stärker, seine Krallen gruben sich tief in die Erde und sein langer Schwanz zuckte kurz. Einer der Attentäter aus seinem Traum war hier, irgendwo. Er spürte es so deutlich, als würde ihn der unbekannte Mann laut und aus direkter Nähe ansprechen. Innerhalb weniger Sekunden hatte Eric die Angst vor einem erneuten Aussetzer inmitten tausender Menschen verdrängt. Der Drache war scharf, hungrig und absolut präzise. Er würde definitiv niemanden beachten, der nicht direkt eine Bedrohung darstellte. Sein drohend grollendes Knurren erschreckte die Umstehenden und als er sich zielstrebig in Bewegung setzte, drängten sie sich, um ihm nicht im Weg zu stehen. Eric schritt suchend durch die Menge, breitete seine Schwingen aus um einen Schatten zu werfen und zu schauen, wer sich absichtlich darin verstecken würde. Sofort erhaschte er einen recht großen, kräftigen Menschen, gekleidet in grobe Stoffe und offensichtlich sehr darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Der Mann blieb im Schatten und bemühte sich, näher an Eric heranzukommen. Erst, als er am Rande jenes inneren, mittlerweile aufgebrochenen Kreises von Beobachtern ankam, blieb er stehen. Weiter konnte er nicht gehen, ohne sich völlig offensichtlich zu zeigen.
Eric schloss seine Flügel wieder, stützte sich mit ihnen am Boden ab, als wären sie ein zusätzliches Paar starker Arme. Seine Flügelhäute begannen vor Erregung zu vibrieren. Ein kurzer, tiefer Ton, den jeder im Gesicht spüren konnte. Eric spürte die Spannung in sich. Dieser Mann war einer von Manous Gehilfen. Zweifellos. Eine reale und greifbare Chance, etwas über Manou herauszufinden. Die Menschen blieben wie angewurzelt stehen, als der Drache in ihrer Mitte seine gewaltigen Muskeln anspannte und sich dem Schmied weiter näherte. Was hatte er vor? Als ihnen klarwurde, dass das fremde Wesen in dem Schmied einen Feind sah, nahmen sie doch eilig Abstand von dem Mann, der mit gesenktem Blick bis jetzt glaubte, er könne sich weiter verstecken. Er wollte sich wohl sehr auf etwas konzentrieren. Die glühenden Augen des schwarzblauen Drachen suchten flüchtig die Umgebung nach weiteren Gefahren ab, schließlich verweilte sein bösartiger Blick auf dem Handwerker, der nun allein dastand und plötzlich die Arme hob. Weit hinter ihm bewegte sich etwas in der Menge. Ein riesiger metallischer Speer, locker fünf Meter lang und weit über einhundert Kilogramm schwer, brach aus der Erde durch die Wiese an die Oberfläche und erhob sich lautlos aus der Menge, drehte sich langsam in Erics Richtung und schoss mit einem erstickten Ton wie eine Kanonenkugel auf ihn zu.
Eric sah das Geschoss auf sich zu zischen und wusste genau, wo es ihn am Hals treffen würde. Doch der Drache blieb ruhig. Er wusste auch, dass das Objekt seinen Panzer nicht durchdringen konnte, er hatte das magnetische Metall längst erfasst und geprüft und war sich sicher, es wäre zu spröde, um ernsthaften Schaden anzurichten. Der Aufprall war dennoch extrem hart, die gesamte Energie konzentrierte sich auf den winzigen Punkt, auf welchen die scharfe Spitze des Speeres gerichtet war. Eric spürte einen kurzen Druck und einen stechenden Schmerz in den Muskeln am Hals. Der Speer zersplitterte mit einem lauten Knall und Lichtblitz unter der Gewalt des eigenen Aufpralls, seine scharfkantigen Einzelteile fielen schwer auf den Boden und blieben glühend im kurzen Gras liegen, ein paar Splitter verfehlten nur um Haaresbreite die ersten Reihen der Menge.
Die erschrockenen Aufschreie einiger Menschen waren längst verstummt, da stand der Attentäter noch immer wie angewurzelt einfach nur da und bewegte sich nicht. Er wusste genau, das war sein Ende. Warum hatte die Waffe den Drachen nicht getötet oder wenigstens verletzt? Wie war das möglich? Die Spannung und Siegessicherheit in seinem Körper ließ augenblicklich nach, er hob den Kopf und starrte direkt in das Paar feuriger Augen. Die Hitze des Drachen wurde plötzlich so enorm, dass einige der Menschen die Augen zusammenkniffen. Ein kurzes, erregtes Aufleuchten zuckte durch den gesamten Körper des Drachen, im hellen Sonnenlicht nur dank der tief blauschwarzen Schuppen überhaupt sichtbar. Als ob er nachdenken würde legte er den Kopf schief und wirkte fast so, als wollte er lachen.
Erics Gedanken waren wie ausgelöscht, langsam drehte er den Kopf ein wenig und prüfte seinen Hals. Keine Verletzung, der Schmerz ließ bereits nach. Er stand einige Sekunden stumm da, dann machte er ein paar lange Schritte auf den erstarrten Angreifer zu, holte aus und fegte ihn mit aller Kraft vom Boden wie ein Glas Wasser vom Tisch. Ein hässliches Geräusch erklang, als die Rippen des Mannes zersplitterten, die Luft aus den Lungen des Schmieds herausgepresst wurde und sie durch die Wucht des Schlages zerplatzten. Eine feine, rötliche Wolke fauchte wie Sprühnebel aus seinem Mund und der Nase, der Körper segelte durch die Luft und krachte einige Meter weiter wie eine Abrissbirne durch die Wand einer kleinen Lehmhütte. Die Splitter und der blutige Staub stoben in alle Richtungen, ehe es wieder ruhig wurde. Während sich Eric abermals prüfend umsah, leckte er das Blut von seinen Krallen. Ein leises, heißes Schnauben machte klar, es schmeckte ihm. Als seine Fänge sauber waren, hielt er kurz inne. Es war totenstill. Mit einem Mal verneigten sich die Menschen, wie eine Welle ging die Regung durch die Massen. Sie ließen ihn kaum aus den Augen, doch die Geste war eindeutig.
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