Jemand klopfte an die Tür und riss Eric aus seinen Gedanken, mit welchen er sich ziellos von dem Geschmack nach rohem Fleisch in seinem Mund abzulenken versuchte. Niemand klopfte an diese Tür. Jack würde einfach hereinkommen und selbst Haku war ihnen ein so naher Freund, dass sie beim jeweils anderen ein und aus gingen, wie es ihnen passte. Zu seiner Erleichterung beschlich ihn schnell die Gewissheit, dass es auch nicht Mia war. Müde und neugierig stand Eric auf, schlüpfte in seine Klamotten und ging zur Tür.
Draußen stand Crow. Er wollte gerade gehen, hatte gedacht, es würde keiner aufmachen und nun erschrak er, als Eric ihm in die Augen sah. Doch es war nur die Überraschung, keine Angst. Oder doch? Eric trat einen Schritt zurück und ließ ihn wortlos eintreten, während ein paar vorbeigehende Bewohner des Heims ihn neugierig musterten, als wäre etwas Besonderes an ihm.
Crow war ähnlich groß wie Jack, doch er wirkte weder so kräftig noch so selbstbewusst. Er machte den Eindruck, eine lange, schwierige Zeit hinter sich zu haben und müde zu sein. Eric spürte sofort eine Art Verständnis, als er den neugierigen Blick seines Besuchers durch den Raum schweifen sah. Schließlich wandte Crow sich Eric zu. Er schien genau zu wissen, was er wollte, aber nicht, was er sagen sollte. Traute er sich nicht? Eric wollte es ihm nicht schwer machen und die drückende Stille störte ihn.
»Setz dich«, sagte Eric und beide ließen sich an dem Tisch nieder, auf welchem verstreut bekritzelte Papierfetzen, Schulhefte und ein paar von Jacks Kleidungsstücken lagen. Eric sah Crow aufmerksam an, er mochte ihn irgendwie und freute sich darüber, dass Crow scheinbar keine Angst hatte.
»Ich will mich bei dir bedanken. Und dir sagen, dass alles okay ist. Ich meine … Ich habe erst nicht hingesehen, aber Haku hat mir danach alles gezeigt. Ich kann damit umgehen.«
Eric wusste nicht, was er dazu sagen sollte und bekam das Gefühl, jemand hätte ihm gerade ins Gesicht getreten. Was um alles in der Welt war hier los? Haku kommunizierte ebenfalls in Gedanken? Und Crow auch? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ließ Crow nicht aus den Augen. Der fühlte sich offenbar recht wohl. Erics Neugier wuchs, sein Misstrauen ebenfalls. War das alles, was er wollte?
»Haku sagt, dein Spitzname ist Kleiner Drache. Warum?«
»Er und Jack sind der Ansicht, dass es passt. Jack hat mir den Namen gegeben.«
Crow nickte. Er wirkte auf einmal etwas schüchtern und überlegte, ob er weiter fragen sollte.
»Ich habe gehört, einige nennen dich Biest oder Tier. Einer der Älteren meint, du wärst schon immer so … Ich meine … Bist du?«
Crow beobachtete Erics Reaktion genau und erkannte sofort, dass er etwas in Eric getroffen hatte, als der kurz die Augen niederschlug und kaum merklich den Kopf schüttelte. Doch Crow fragte weiter. Er wirkte nicht ganz sicher, doch etwas trieb ihn voran.
»Bist du ein Drache?«
Eric hatte augenblicklich wieder das Gefühl, zu träumen. Aber es war real, das spürte er so deutlich und klar, wie Crow ihn gerade anschaute und seine Neugier kaum zurückhalten konnte.
»Bist du eine Krähe?«, fragte Eric.
»Naja, nicht ganz. Sie sprechen manchmal zu mir, zeigen mir, was sie alles können. Sie flüstern mir Sachen zu, wenn sie auf meiner Schulter sitzen. Manchmal haben sie mich bewacht, wenn ich auf der Straße geschlafen habe. Wir sind irgendwie seelenverwandt und teilen viel. Sie sind sehr schlau. Raben auch.«
Eric war sprachlos. Er glaubte Crow jedes Wort, hatte aber in keiner Weise erwartet, hier noch jemanden zu treffen, der so anders war. Er schluckte.
»Kannst du ihre Gestalt annehmen?«
Crow senkte den Blick. Eine Erinnerung keimte auf, die er offensichtlich nicht besonders mochte.
»Nur einmal. Als meine Eltern … so konnte ich fliehen, jetzt bin ich hier. Ich weiß nicht, wie. Aber manchmal verhalte ich mich ähnlich wie die Krähen. Ich denke nicht darüber nach, es passiert einfach. Ich glaube, wenn ich älter und größer werde, krieg ich das irgendwann in den Griff. Hoffentlich«, meinte er, ein zaghaftes Lächeln schlich sich in sein Gesicht, »Krähen sind manchmal sehr seltsam. Das kann peinlich sein.«
Eric fühlte einen leichten Schmerz im Herzen, welches mittlerweile zur Ruhe gekommen war. Deshalb war Crow also im Heim, auch er hatte seine Eltern verloren.
»Es tut mir sehr leid, Crow. Wegen deiner Eltern meine ich.«
»Schon gut«, meinte Crow, doch Eric wusste, dass es überhaupt nicht gut war. Crow vermisste sie mehr als irgendetwas sonst, augenblicklich wurde er von seiner Trauer überrannt. Er ballte die Fäuste und schüttelte den Kopf, als wollte er die Flut an Emotionen ablehnen. Eric stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in den Arm. Er hatte keine Ahnung, was ihn zu dieser Geste trieb und empfand es als das Einzige, was er gerade tun konnte. Er wollte Crow trösten. Einfach nur für ihn da sein. Crow zögerte, doch schließlich klammerte er sich fest an Eric und weinte, konnte sich kaum beruhigen. Er war wütend.
»Ich will sie zurückhaben! Ich muss ihnen noch so viel sagen … das ist so unfair. So unfair! Ich … ich war nie da, habe fast die ganze Zeit draußen verbracht, weißt du? Und sie haben mich gelassen, sie wussten, dass … es war okay für sie, sie haben aufgepasst aber mich immer gelassen und … Es war nicht leicht für sie. Sie haben mich soweit den Krähen überlassen, wie ich es brauchte, aber sie haben nie losgelassen, verstehst du? Ich weiß, dass sie sich das mit ihrem Sohn nicht so vorgestellt haben und jetzt … ich vermisse sie so sehr, warum …«
Eric hielt ihn fest, spürte den kleinen, bebenden Körper in seinen Armen und hatte plötzlich das Gefühl, er könnte ihn später unmöglich wieder alleinlassen. Crow war so tapfer, viel selbstständiger und mutiger als Eric es bei allen hier im Heim je erlebt hatte. Genau wie Jack und Haku. Er vergaß völlig, warum er eigentlich allein hier im Zimmer geblieben war, hatte nur noch Raum und Zeit für Crow, der gerade in ein sehr tiefes Loch zu fallen drohte. Eric schob ihn vorsichtig von sich weg und sah ihm in die Augen. Etwas in Erics Inneren hielt Crow auf Abstand und wollte nicht riskieren, dass der sich zu sehr an etwas binden würde, was vielleicht grausam und dunkel war.
»Crow, du bist unglaublich. Ehrlich. Du bist so stark. Du wirst damit zurechtkommen, glaub mir. Du kommst klar, mit der Zeit. Ich weiß, wie du dich fühlst. Du bist nicht allein hier, hörst du? Erinnere dich an deine Eltern, so viel du kannst. Egal, wie schmerzhaft. Du wirst damit leben müssen und das kannst du auch.«
Crow sah ihn unsicher an, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er schien Erics Worte zu verstehen und anzunehmen, nickte stumm und machte einen Schritt zurück, setzte sich wieder an den Tisch und legte den Kopf erschöpft auf die Tischplatte. Eric blieb kurz stehen, wusste nicht, was er tun sollte oder was es jetzt noch zu sagen gab. Aber Crow machte eindeutig den Eindruck, ihn gerade jetzt irgendwie zu brauchen. So setzte auch Eric sich wieder hin. Minutenlang beobachtete er Crow dabei, wie der sich an seine Vergangenheit erinnerte. Ab und zu schluchzte er, beruhigte sich aber jedes Mal. Als wollte er ab heute nie wieder weinen.
»Ich glaube, du bist wirklich ein Drache«, sagte Crow schließlich, während er sich mit den Ärmeln seines schwarzen Pullovers das Gesicht trocknete und sich auf seinem Stuhl räkelte, »ich denke, es stimmt.«
Abermals war Eric verblüfft, doch dieses Mal fragte er sofort nach.
»Warum? Hast du schon mal einen getroffen?«
»Nein, nein. Keine Ahnung. Aber sieh dich an! Du bist extrem stark, obwohl du noch so jung bist und gar nicht so aussiehst. Naja, schon etwas, aber … die meisten hier scheinen Angst vor dir zu haben, oder vielleicht nicht Angst aber auf jeden Fall sehr viel Respekt, also … naja. Und das mit Jan! Etwas ist mit deinen Augen, ich weiß nicht genau. Aber wenn ich hineinsehe, dann ist das nicht normal.«
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