Mia sah müde aus, hatte Ringe um die Augen und offenbar wenig geschlafen. Trotzdem spürte Eric, dass sie in guter Verfassung war. Sie sagte nichts, Jack sah ihn zufrieden an.
»Haben du geschlafen?«
»Ja«, sagte Eric und räusperte sich, als ihm seine schwache Stimme auffiel, »nicht viel, aber immerhin.«
»Gut«, sagte Mia, »setz dich. Du kannst später etwas essen. Trink einen Tee.«
Eric fühlte sich plötzlich wie auf dem Weg zur Schlachtbank. Mia sah nicht besonders wütend aus, wirkte jedoch etwas kühl. Er setzte sich und betrachtete unruhig eine Biene, welche durch ein offenes Fenster herein schwirrte und systematisch den Raum absuchte. Er nahm den dritten Becher, welcher noch umgestülpt neben der großen Teekanne stand. Offenbar hatten sie mit ihm gerechnet. Behutsam goss er Tee hinein und beobachtete schläfrig den Dampf, wie der in niemals gleichen Formen und Strömen aufstieg. Endlose Variation und doch oberflächlich jedes Mal so ähnlich …
»Eric, ich habe zwei Fragen. Sieh mich an.«
Mia sah ihn ernst an, lenkte seine Aufmerksamkeit von der Biene und dem Tee auf ihr Gesicht.
»Im Wald bat ich dich, den Stein schweben zu lassen. Ich verlangte Kontrolle. Was war deine Antwort?«
Eric sah sie überrascht an, blitzschnell entwickelte sich eine Kette aus möglichen Absichten Mias in seinen Gedanken. Einen Sekundenbruchteil später sah er ein, dass die wahrscheinlichste zweite Frage sein musste, ob er Jan absichtlich gefoltert hatte. Doch er war unsicher, erinnerte sich aber genau an das, was er zu Mia gesagt hatte.
»Kontrolle ist nicht das Problem.«
»Exakt. Und dann hast du den See angehoben. Als wäre es nichts.«
Mia schüttelte kaum merklich den Kopf, das Erlebnis am See war noch immer sehr präsent.
»Ich nehme das als Beweis dafür, dass Kontrolle in dem Sinne tatsächlich nicht dein Problem ist. So bleibt nur noch eine einzige relevante Frage, nachdem du Jan derart präzise und durchaus kontrolliert gefoltert und vor allem geheilt hast. Ebenfalls, als wäre es nichts. Was genau ist dein Problem?«
In ihren Gedanken sah Eric die Bilder aus dem Duschraum und er verstand, dass sie genau wusste, was passiert war. Als Mia erkannte, dass er ihre Gedanken beobachtete, verschloss sie diese umgehend und sperrte ihn aus. Eric hatte zwei Antworten, konnte sich nicht entscheiden und unterdrückte schnell den Impuls, einfach in Mias Gedanken einzubrechen. Warum hatte sie nicht gleich die zweite Frage gestellt? Hatte sie den Eindruck, er könnte etwas vergessen haben? Plötzlich wurde es still in ihm, seine Gedanken sprangen zurück zu jenem Gespräch mit Jack an diesem Tisch, als er ihn vor Wochen nach seinem Spitznamen gefragt hatte. Jack hatte Eric detailliert beschrieben, wie der damals reagierte, als Jan sich auf Haku stürzte. Und wie Eric auch damals Jan zwar attackiert, aber nicht getötet hatte, obwohl sich laut Jack alle genau dieser Absicht so sicher gewesen waren. Es war exakt dasselbe Muster. Weniger blutig, im Grunde gleich. Auf eine befremdliche, groteske Weise tröstete diese Erkenntnis Eric. Damals hatte er Jack noch gar nicht gekannt. Was auch immer ihn aufgehalten hatte, kam von innen und nicht von außen. Eric blickte auf, war abgedriftet. Doch es war kaum Zeit vergangen.
»Sag du es mir.«
Mia blieb still, war sich seiner Stimmung nicht sicher. Erst durch ihre Reaktion wurde Eric bewusst, wie angriffslustig seine Antwort gerade geklungen hatte. Er nahm einen Schluck Tee. Schließlich meinte sie:
»Ich denke, du weißt nicht, warum. Du weißt nicht, wer du bist. Und das ist okay, du bist jung. Aber du solltest dir sehr schnell überlegen, wer du sein willst, Eric. Sag mir, dass du verstehst, was ich meine.«
»Ja. Ich verstehe.«, flüsterte Eric mehr zu sich selbst als zu ihr. Unerwartet überkam ihn eine Art Schuldgefühl, weil er Mia so abweisend begegnete. Abermals folgten seine Augen der Biene, welche sich gerade wieder aus dem Staub machte. Als er Mia wieder ansah, zeigte ihr Gesicht einen milden Ausdruck, ein Gemisch aus Sorge und Verständnis. Sie umarmte ihn fest, wie früher so oft.
»Ich sehe, wie schwer es für dich ist. Jetzt trink den Tee und geh mit Jack etwas essen, ich muss ein paar Dinge erledigen, damit nichts fehlt. Wir reisen heute Nacht. Du wirst fliegen, dann wird uns wenigstens niemand angreifen. Ist das in Ordnung? Es sind etwa viertausend Kilometer und wir haben nicht viel Zeit, also ruhe dich vorher aus. Wir können zwischendurch nicht landen, merk dir das. Und mach dir um mich keine Sorgen, das sind nur die Nachwirkungen der Wächter. Das vergeht wieder.«
Eric löste sich aus ihrer Umarmung. Wieviel? Er rechnete nach. Da sie vermutlich nur nachts fliegen sollten, im Schutz der Dunkelheit, müsste er fast fünfhundert Kilometer pro Stunde schaffen. Wie stellte sie sich das vor? Das würden weder sie noch Jack aushalten. Mia verfolgte seine Gedanken, schüttelte beruhigend den Kopf.
»Nur ein Teil der Reise muss versteckt überwunden werden. Danach ist alles etwas entspannter. Und es wäre doch angenehm, wenn wir nicht laufen müssten, oder?«
Eric blieb still. Mia zeigte sich absolut sicher, dass ein Flug die beste Lösung war. Und gehen war ohnehin das Letzte, was er tun würde. Seine Muskeln zuckten kurz, als würden sie aufwachen. So weit und so lange. Tief in sich spürte er, dass er das locker schaffen würde. Er dachte an Zugvögel, die tausende Kilometer zu fliegen vermochten. Aber die mussten sich auch nicht immer Sorgen machen, von irgendwem ermordet zu werden oder plötzlich schreckliche Dinge zu tun, ohne es zu wollen.
»Ist gut. Und was müssen wir mitnehmen?«
Sie lächelte stolz.
»Ihr könnt so gehen, wie ihr seid. Frische Kleidung bekommt ihr dort. Und nein, ich werde dir nicht sagen, wo wir hinwollen. Eine Himmelsrichtung reicht völlig. Meine Kollegen wissen, dass wir verreisen werden, also stellt keine Fragen und behaltet es vor allem für euch. Wir werden uns auf dem Tennisplatz treffen, sobald es dunkel ist.«
Mia stand auf, lächelte sie beide an und verließ den Raum. Eric schaute ihr nach, hatte gerade nach dem Ziel fragen wollen. Dass er fliegen sollte, überschwemmte ihn erneut mit unzähligen, sonderbaren Möglichkeiten. Jack stand auf und verpasste Eric einen freundschaftlichen Schubs.
»Küche«, sagte er nur. Eric grinste. Jack hatte selbst schon wieder Hunger, obwohl er garantiert ausgiebig gefrühstückt hatte.
Auf dem kurzen Weg in die Küche sprachen Eric und Jack kein Wort. Ein kleiner Junge und ein Mädchen kamen ihnen entgegen, beide hatten sich scheinbar ein frisches Baguette stibitzt. Als sie Eric sahen, wurden ihre Schritte langsamer, doch als er so tat, als hätte er nichts gesehen, lachten sie und liefen an ihm und Jack vorbei. Der frische Duft benebelte Eric, er wollte nur noch essen. Sofort. Und sich dann mit Jack unterhalten. Doch bevor sie die Schiebetür zur Küche erreichten, blieb Eric wie angewurzelt stehen. Ein Geruch ließ ihn innehalten, Jack kam zurück und sah ihn fragend an.
»Jan ist da drin«, sagte Eric sofort. Jack lauschte. Jemand war gerade dabei, abzuwaschen. Offensichtlich wollte Jack allein deshalb die Möglichkeit ausschließen, dass es tatsächlich Jan sein sollte. Doch Eric meinte es ernst. Der Geruch war so deutlich, es war Jans Signatur. Eric machte ein paar unsichere Schritte rückwärts, ehe er sich wieder fing und versuchte, klar zu denken.
»Eric, es okay. Keine Gefahr, oder? Die nur abwaschen.«
»Bist du sicher?«, fragte Eric kleinlaut, prüfte seine Reaktionen und sein Inneres. Er hatte Angst, doch sie verflog. Jan würde bestimmt nicht versuchen, ihn anzugreifen. Also, was sollte schon passieren? Jack schob ihn beschwichtigend einen Schritt vorwärts.
»Lernen, damit umzugehen. Los jetzt, ich hab Hunger.«
Als sie in die Küche eintraten, waren dort Jan und die zwei seiner Freunde, welche ihm zu helfen versuchten, als Eric ihn angegriffen hatte. Sie standen an einem der riesigen Spülbecken, arbeiteten sich durch das Geschirr von Frühstück und Mittagessen. Eric blieb in der Tür stehen, Jack ging einfach weiter zu der langen Arbeitsplatte aus Metall, welche direkt an der Wand neben der Tür war und auf welcher immer die Reste des Essens abgestellt wurden. Als Jack sich einen großen, sauberen Teller von jenem Stapel nahm, auf dem einer von Jans Freunden ständig welche abstellte, bemerkten sie ihn. Der Junge hielt inne, Jack nickte ihm freundlich zu und entfernte sich rasch. Ohne Zögern oder Unbehagen begann er, Kartoffeln und Gemüse auf seinen Teller zu laden. Als der Junge seinem Bruder und Jan einen Stoß gab, drehten auch sie sich um und sahen Eric in der Tür stehen. Jan war gerade dabei, eines der großen Fleischmesser abzuwaschen. Als Eric die schimmernde Klinge sah, wurde er unruhig. Jan stellte das Wasser ab und warf Jack einen prüfenden Blick zu. Der war bereits am Essen und beobachtete die Situation, ohne sich einzumischen. Eric blinzelte. Da er sich nicht aus der Hand fressen wollte, musste er sich einen Teller besorgen.
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