Mia lächelte ihn an, Jack legte sich hin. Sie holte eine Wolldecke aus ihrer Tasche und warf sie den beiden hin. Eric legte sich auf den Rücken neben Jack ins weiche, trockene Moos und deckte sie beide zu, sah zwischen ein paar Ästen die ersten Sterne aufglimmen und hörte gespannt den Schritten eines Käfers zu, welcher direkt neben seinem linken Ohr durch das Moos wanderte. Er machte die Augen zu und tat das, was er immer tat, sobald er tagsüber träumte, wenn auch sonst mit offenen Augen: Er überließ sich seinen Gedanken, ließ sie ziehen ins Ungewisse. Unvermittelt landeten sie bei jenem Baum am See, welcher wie ein mystischer Beweis für eine Verbindung zwischen Einbildung und Realität tatsächlich nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand. Gab es überhaupt eine Trennung der zwei? Er stellte sich seine Gedanken wie die Wolken am Himmel vor, manchmal ruhig, mal turbulent, hell oder dunkel und immer in Bewegung. Nach einiger Zeit, er wusste nicht, wie lange, wurde sein einst wolkenverhangener Himmel vollkommen blau, kein Hauch von Dunst war mehr zu sehen. Er hatte fast das Gefühl, nichts mehr in sich zu haben, nie einen Gedanken entwickelt oder einen Sinneseindruck gehabt zu haben. Es war wie ein leeres Blatt schneeweißen Papieres, das neu beschrieben werden sollte. Er öffnete die Augen.
»Bin soweit«, sagte Eric leise und Mia antwortete:
»Ich habe hier einen Stein, etwa ein Kilo schwer. Sobald du ihn einen Meter über dem Boden schweben lassen kannst, darfst du mich wecken.«
Eric sah den Stein nicht an. Er glaubte Mia einfach. Seine Gedanken löschten sich wie von selbst, sobald sie gedacht waren. Er konnte von vorn anfangen, sofern er es wollte. Oder nur die Gedanken zurückholen, welche nützlich waren. Er fühlte die Masse des Steins. Es musste ein glatter Stein sein, er roch nach Süßwasser und das hieß, dass er vielleicht aus einem Fluss oder einem See stammte und dass das Wasser ihn hatte glatt werden lassen. Eric wusste nicht, ob er es zu wissen glaubte. Er hing zwischen zwei Zuständen, der völligen Gedankenlosigkeit und dem Leben. Beides war doch sehr weit voneinander entfernt, sodass sich der Stein weder in die eine noch in die andere Richtung bewegte. Es hing von seiner Entscheidung ab, ob er die Welt mit den Augen eines Menschen oder mit jenen eines besonderen Menschen sah. Er ahnte, dass er seine Kräfte immer beherrschen würde. Egal, was er damit täte. Aber falls er sie verwendete, um etwas Gutes zu tun, würde er sie vielleicht verstehen. Und das war etwas, was er schon lange gewollt hatte. Die Fähigkeit, hinter die Entscheidungen und Handlungen eines Menschen zu sehen, sie zu begreifen. Damit könnte er selbst den größten Feind besiegen. Oder vielleicht seine Träume.
Eric entschied sich für den Drachen. Den Charakter des Menschen, anfällig für Bestechung und das Streben nach zu viel, ließ er für den Moment einfach zurück. Er entschied sich für ein neues Leben, vielleicht zusammen mit Jack. Hoffentlich … In dem Augenblick, in dem er diesen Entschluss gefasst hatte, spürte er den Stein in seiner Hand. Er hob die Hand, der Stein folgte seiner Bewegung. Eric holte aus und schleuderte den Brocken mit aller Kraft hinaus in den See. Die Wasseroberfläche kräuselte sich, die perfekt runden Wellen liefen lautlos und ohne Klagen auseinander. Eric hörte das Sprudeln der unter die Wasseroberfläche gerissenen Luft, dann vernahm er Mias Stimme. Sie lag ebenfalls mit geschlossenen Augen einfach nur da, dachte in Ruhe nach und verfolgte die Gedanken ihres Sohnes, sobald diese sich ein wenig öffneten.
»Kontrolle, nicht Gewalt. Du solltest ihn schweben lassen, nicht fortschleudern. Das ist einfach.«
Etwas in Eric bewegte sich mit mächtiger Kraft, als hätte Mias Kommentar ihn irgendwie provoziert.
»Kontrolle ist nicht das Problem, Mia.«, sagte Eric kühl.
Ohne Vorwarnung spürte er den See in seiner Hand. Die Masse der Milliarden Liter Wasser, den Lebensraum für unzählige Organismen. Er hob wieder langsam die Hand und das Wasser folgte seiner Bewegung. Es löste sich von seinem Becken, mitsamt allem Inhalt. Ein heftiger Windstoß begleitete das dumpfe und saugende Geräusch der Luft, welche urplötzlich und gewaltsam aus allen Richtungen zwischen Boden und Seewasser gezogen wurde und wie ein Sturm zur Mitte des Beckens rauschte, um den Naturgesetzen der Balance folgend jeden Raum zu füllen, der vorher vom Wasser eingenommen war. Nichts konnte wirklich leer sein, zumindest nicht hier. Eric schmunzelte. Was wäre, wenn die Finsternis nicht leer wäre und das Nichts kein Nichts, sondern nur eine Illusion, in welcher sich etwas anderes versteckte?
Im Mondlicht konnte man die Fische und alle anderen Tiere wie in einem monströsen Aquarium fast zehn Meter über dem Boden schweben sehen, Erics Augen erfassten unzählige winzige Organismen und Teilchen. Er erkannte ein merkwürdiges Gebilde an der Stelle im Wasser, an welcher die von allen Seiten einströmende Luft zusammengeschlagen und nach oben vorgestoßen war, in die gewaltige Wassermenge hinein. Ein kochender Pilz aus wirbelnden Luftblasen sprudelte wie schwerelos umher. Mitgerissener Sand, Steine und Pflanzen färbten die kleine Explosion in den Farben der Erde, schimmerten im Mondschein.
Erschrocken von dem kurzen, unnatürlichen Wind und den Geräuschen, richtete sich Mia auf, während das Echo des lauten Sauggeräusches langsam verhallte. Sie traute ihren Augen nicht, stellte sich sofort hin und stupste Jack an, der aus gemütlichen Träumereien erwachte und das Wasser zunächst mit noch fast geschlossenen Augen ruhig anglotzte, wie es da ein paar Meter vor ihnen in der Luft schwebte. Schließlich erreichte das Bild sein Bewusstsein und er verstand, dass er nicht mehr träumte. Jacks Augen weiteten sich langsam, die Gesichtszüge entglitten ihm. Der See war erstaunlich tief, an einer Stelle erkannten sie eine lange, dicke Säule aus Wasser, der Inhalt eines tiefen Loches. Groß wie eine kleine Stadt und voller organischer, wahnsinniger Lichtspiele, schwebte der See nun vor ihnen und stieg langsam immer weiter nach oben.
»Jack, was siehst du?«, flüsterte Mia zu Jack, der erst sich selbst schmerzhaft in die Finger biss und dann Mia in den Arm kniff. Beide schrien kurz auf, dann wurden sie sich einig, dass sie wirklich nicht träumten.
»Ich sehe … auch …«, kam es langsam aus Jack heraus. Er dachte nur, konnte nicht sprechen.
Eric erhob sich nun ebenfalls, stellte sich hinter die beiden und genoss den unglaublichen Anblick, während er das Gewicht des Sees angenehm schwer irgendwo tief in seinem Inneren spürte. Als Fische und andere Wesen zunehmend hektisch in Bewegung gerieten und sich Druck und Bewegung im Wasser zu sehr änderten, ließ Eric es behutsam wieder in dessen Becken sinken. Ein leichtes Erdbeben rollte durch den Waldboden und über die angrenzenden Wiesen, als sich hunderte Millionen Tonnen Wasser gleichzeitig niederlegten und den Boden großflächig fast einen halben Meter absenkten. Eine heftige Druckwelle fegte ihnen um die Ohren, feucht und diesig ließ sie die Bäume im Wald rascheln. Eric ließ seine Hand sinken, beruhigte das Wasser und beobachtete fasziniert eine kochende Bewegung in der Mitte des Sees, fast einen Kilometer entfernt. Als er vorsichtig ausatmete, flimmerte die Luft. Ihm war heiß.
»Ich hoffe, ich werde meine Entscheidung nicht bereuen«, sagte Eric, betrachtete nachdenklich seine Hand und sah hinaus aufs Wasser, wo sich die größeren Wellen langsam legten und plötzlich Schwärme aller möglichen Fische sich nahe der Oberfläche bewegten. Mia und Jack gaben keinen Ton von sich, beide hatten zu atmen aufgehört. Sie sahen immer noch ständig zwischen dem See und Eric hin und her, konnten nicht glauben, was sie da gerade gesehen hatten. Doch Eric beachtete sie nicht. Er war tief in Gedanken versunken, musterte wieder den Baum. Dieses Mal waren es Mia und Jack, die sich flüchtig fragten, ob sie in einem Traum steckten. Mia regte sich zuerst, ging zum Ufer und berührte mit den Schuhen das Wasser. Als sie sich zu ihnen umdrehte, war ihr Blick abermals kaum zu deuten. Sie kam zurück und ließ Eric nicht aus den Augen, der sie erst jetzt verträumt ansah.
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