Den Pyjama, den er anhatte, kannte er nicht. Aus Baumwolle, in Rot und mit einer Mickeymaus auf dem Shirt. Eric grinste. Sicher hatte Jack den irgendwo hervorgekramt, er gehörte weder ihm noch Eric. Er saß auf der Kante der Matratze und überlegte, was sein Traum zu bedeuten hatte. Hatten sie überhaupt eine wahre Bedeutung? Er verglich ihn mit allen anderen, die er bisher gehabt hatte. Dieser war der erste, in dem er etwas von einem Wald oder einem Herrscher erfahren hatte, dem jener Wald gehören sollte. Und was war das für ein Name? Manou … Klang komisch, irgendwie altmodisch. Bedeutung? Die Gedanken des Mannes hatte er verstanden, die Sprache war nicht besonders fremd oder gar völlig unbekannt gewesen. Er konnte sich kaum an das Gesicht von ihm erinnern, dafür aber an seine Tat und das, was er in dessen Seele hatte lesen können. Wieder spürte Eric den Zorn in sich wachsen. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte den Kerl einfach beseitigt, bevor ihn jemand fand und rettete. Vielleicht machte er so weiter, quälte im Auftrag seines Herrschers irgendjemanden oder ganz bestimmte Wesen. Er sollte sterben. Schmerzvoll sterben. Eric blinzelte und wunderte sich, dass er so dachte. Warum überhaupt? Es war nur ein Traum gewesen, was hätten seine Taten schon bewirkt? Bisher hatte er sich immer klein und hilflos gefühlt, machtlos im Angesicht von Leid und Schmerz überall auf der Welt. Jetzt aber hatte er eine Chance, mit den entdeckten Kräften etwas zu ändern. Und gleich beim ersten Kandidaten hatte er vielleicht einen folgenschweren Fehler begangen und ihn laufen lassen.
Die Tür zu Mias Büro glitt auf und Jack kam rückwärts mit einem Tablett herein. Als er sich umdrehte und Seinen Freund munter dasitzen sah, verschüttete er vor Freude ein wenig des stark duftenden Kräutertees, den Mia sicherlich für sie beide zubereitet hatte.
»Xiaolong, Bruder! Du bist wieder wach«, rief er vergnügt, zerrte den einen Klappstuhl neben die Liege und setzte sich, »wir schon Sorgen gehabt, du noch länger schlafen … verdammt lange. Guten Morgen!«
Eric bemerkte, dass ihn der Name gar nicht mehr störte, es war ihm weder peinlich noch kam es ihm angeberisch vor. Immerhin entsprach es dem, was er war. Noch jedenfalls. Bald wäre er vielleicht gar nicht mehr so klein, denn er war immer noch sechzehn, nicht erwachsen. Nicht ausgewachsen … In welcher Zeit war oder existierte eigentlich seine andere Form, der Drache? Egal, später. Eric nahm Jack das Tablett ab, lächelte ihn dankbar an und teilte ihm in Gedanken seine Freude darüber mit, ihn wiederzusehen.
»Du lange gelegen, über ein Monat. Hoffentlich wieder gesund. Jedenfalls sehen so aus. Wir verstehen nicht, wieso du nicht gestorben, aber wir überglücklich, dass du leben. Und ich dir danken! Ich glaube, du haben uns Leben gerettet.«
Eric unterbrach Jacks Redeschwall mit einer Frage, als er feststellte, dass er so gut wie keine Erinnerungen an die Zeit vor dem Traum von Manou hatte. Zwischen dem Aufeinandertreffen mit den Wächtern und jetzt gab es nur dunklen, bilderlosen Schmerz und den einen Traum.
»Wo ist Mia?«
»Küche, sicher gleich kommen. Alle anderen sind bei Abendessen. Manche dich heimlich vermissen. Jan sich ein wenig zu sicher fühlen ohne dich. Haku dich grüßen, er wollte dich mal besuchen aber es zu heiß hier drin. Sieh, Mias Pflanzen. Manche abgekratzt. Du hattest Fieber. Aber jetzt musst du ja nicht mehr in Bett liegen! Und wissen was? Ich haben Jan Nase gebrochen! Mia sauer, aber sie sich auch ein wenig freuen. Er dachte, wenn du nicht da, er sich können an mir rächen. Aber ich getan, was Mia mich gelehrt. Sie mir gezeigt, dass ich mich mit Technik verteidigen kann und dann ich zugeschlagen!«
Er hielt Eric seine Faust unter die Nase und seine Augen funkelten angriffslustig. Eric lachte bei dem Gedanken, dass Jan von seinem kleinen Widersacher eins auf die Nase bekommen hatte.
»Und was hast du mit seinen Freunden gemacht? Sie waren doch bestimmt dabei, oder?«
»Ja schon, aber Mia in der Nähe. Und ich sehr hart zugeschlagen. Erst er still, dann ganz überrascht, aber dann er wollte anfangen. Mia war die Lösung. Und nun du wieder wach, also ich denken, sie mich in Ruhe lassen. Iss, und dann anziehen, deine Sachen da auf dem Tisch. Du müssen dich waschen gehen und dann wir uns in einer Stunde treffen, damit du endlich können lernen bei Mia!«
Jack nahm einen Schluck Tee aus seiner Tasse, lachte vergnügt und flitzte aus dem Raum. Eric stand auf, nahm seine gewaschenen Sachen und machte sich auf den Weg zu den Duschen. Er hatte das Gefühl, gerade stundenlang mit Jack gesprochen zu haben. Die vielen Worte wirbelten wie Schneeflocken durch seinen Kopf. Er war froh, niemandem auf seinem Weg zu begegnen.
Ein synthetisch anmutender, lieblicher Geruch lag in der Luft. Er störte Eric, schmeckte unangenehm. Als Eric die erste Kabine öffnen wollte, fiel ihm auf, dass Jan wieder allesamt mit einer Münze abgeschlossen hatte. Er probierte jede der Türen erfolglos durch. Als er vor der letzten stand, seinem gewohnten Platz, dachte er darüber nach, was Jack in der Küche beim Abwaschen gesagt hatte. Vielleicht konnte er ja wirklich zaubern. Er sah das Schloss an und stellte sich vor, wie es sich drehte und die Tür mit einem leisen Klicken aufging. Nichts passierte. Eric seufzte und spürte, wie sich sein Inneres beruhigte. Nicht der Rede wert, Jan war eben ein Idiot. Er sah das Schloss wieder an. Aufgeben? Niemals! Er schloss die Augen und wartete, bis er das Bild der Mechanik im Plastikschloss vor sich sehen konnte. Dann bewegte er in Gedanken den Stift nach links, der die Tür versperrte. In seinen Gedanken schwang die Tür auf, aber er wusste nicht, wie es wirklich aussah. Eric holte tief Luft, öffnete die Augen und begab sich verblüfft und überrascht in die kleine Kabine. Als er seine Sachen in der Plastiktüte ins Waschbecken legen wollte, bemerkte er etwas auf dem Spiegel, als er ihn mit dem Blick streifte. Er sah genauer hin und das Herz wollte ihm stehenbleiben. Mit roter Schrift stand da geschrieben:
Wir kriegen dich und deinen kleinen Freund! Schaue ihm beim Sterben zu!
Eric dachte schnell nach. Das klang zwar wie eine Drohung, doch er spürte keine Warnung in sich und hatte nicht das kribbelnde Gefühl, sich in Sicherheit bringen zu müssen. Er strich langsam mit der Hand drüber und die Schrift verwischte. Er roch an der Farbe. Lippenstift, Erdbeere. Der Urheber des störenden Aromas in der feuchten Luft. Seine Muskeln entspannten sich. Ein Wächter würde wohl kaum mit Lippenstift geschmückt durch die Gegend fliegen und ihm dann sowas auf einen Spiegel schreiben. Eric wusste schon während er sich die Frage stellte, dass es Jan und dessen Freunde gewesen waren. Und Ingrid hatte den Lippenstift gespendet, nur sie hatte solche knalligen Farben im Gesicht. Er atmete tief durch, drehte den Wasserhahn voll auf, ließ sich das erfrischende, warme Nass gefallen. Jan … Der konnte was erleben, wenn er ihm das nächste Mal über den Weg lief.
Frisch gewaschen und guter Dinge machte sich Eric auf den Weg zu Mias Büro. Er freute sich richtig auf seine erste Unterrichtseinheit, Jack wartete schon.
»Yo! Endlich. Ich schon gedacht, du vergessen! Findest du, ich sein in letzter Zeit gewachsen?«
Eric wunderte sich über die Frage. Er betrachtete Jack eingehend, dann meinte er:
»Vielleicht etwas, ja. Jedenfalls eher als geschrumpft.«
Jack lachte gefälscht. Dann klopfte er an Mias Bürotür und öffnete sie. Mia stand schon hinter ihrem Schreibtisch, mit einem Schlüsselbund in der Hand und auf sie wartend hatte sie gerade noch schnell ein paar der Pflanzen gegossen, welche Erics Fieber überlebt hatten.
»Gut, ihr seid pünktlich. Wir werden einen kleinen Ausflug machen und zwar in den Wald, wo ihr euch letztes Mal so vergnügt habt.«
Jack sah Eric fragend an, der zuckte mit den Schultern und beide folgten ihrer Lehrerin bis vor die Haustür, wo sie sich umdrehte und diese verschloss. Mia zeigte die Straße hinunter in Richtung der Sportplätze. Eric sah einen schmalen Verband an ihrer linken Hand, erkannte den Geruch einer ihrer Salben.
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