- Paul: von der Hand in den Mund, und das wohl im Sommer des Vorjahres schon. Im Frühjahr drauf erwischten uns Klassenkameraden auf dem Turnhallenklo und grinsten, vielleicht etwas irritiert. Daheim dampften Eisbein und Sauerkraut, Zwiebelringe, Erbs- und Kartoffelpüree. Vom Eisbein nur das Magere. Was sie wohl sagten, wüßten sie jetzt, was ich vor gut einer Stunde noch...
- Steißbein statt Eisbein. – In seinem goldbraun glänzenden, enggeschnittenen, ich nehme mal an, Kunstseidenhemd, wies Paul durchaus etwas Ähnlichkeit auf zum Bowie der Ziggy-Stardust-Phase. Ziggy Stardust, eine "Hör Zu"-Empfehlung. Und doch, betört vom Frühsiebziger-Island-Logo, ein Mitschüler hatte mir im Herbst '71 seine Singlemappe mit progressiven Island- und Vertigo-Platten, zu hart, zu laut, zu unmelodisch geliehen, sollte nun meine erste LP ganz fraglos eine von Island sein; ich hatte ja noch nicht mal eine Island-Single, noch nicht mal Cat Stevens' "Moon Shadow"; die führte sogar das Wendener Haushaltselektrogeschäft, doch wer weiß, was auf der B-Seite ist...
- Gruppenzwang? Nicht an der Realschule Norddorf. Jeder konnte getrost und ohne Furcht, dann als Weichling dazustehen, hören, was er wollte, und wäre es Roy Black gewesen. Du kannst nicht alles haben, das Glück, den Sonnenschein; kurzum, es endete dann ein Jahr später bei "Demons and Wizards", Ensemble: Uriah Heep, und "Bronze" ein Island-Sublabel noch, und das Logo folglich die Insel. 22 DM Festpreis, Heavy Rock, nicht Hard Rock; die durfte man, wenn auch ganz, ganz leise, sogar am – noch stillen – Karfreitag hören.
Am Tag nach dem Olympia-Attentat. Erste Stunde Gemeinschaftskunde. Minutenlanges Schweigen. Einer kichert, Frau Bergmann mahnt ihn streng.
- Mal wieder die Monatskarte vergessen. Es kam dann ganz auf die Tagesform des Busfahrers an, ob er den Schüler einsteigen oder einen Fahrschein lösen ließ; der Schulbusfahrer war da nicht weniger streng. Es war wohl am Monatsanfang; Lisa-Maria hatte noch ihre Vormonatskarte dabei und drängte mich, ins Namensfeld meinen Namen über den ihren zu schreiben. Der Schulbusfahrer stutzte erst, doch Lisa-Maria lenkte ihn ab, und so kam ich mit dem Schwindel buchstäblich durch – und weiß beim besten Willen nicht, warum ich diese Karte nicht aufgehoben, die Kraftpostschülermonatskarte mit Lisa-Marias Unterschrift, dieses kleine, kostbare Dokument unsrer einzigen gemeinsamen "Sünde"...
- Vermutlich genau deswegen. – Zur Zehnten endlich im Neubau. Paul verlor das Interesse allmählich, und die, die es finden sollten, fanden es nicht; neun, nein, acht, ich mußte da wirklich erst nachrechnen jetzt, und Zärtlichkeit, Erotik... mit einem mal ein flüchtiger Lippenkuß, doch Zärtlichkeiten unter Jungs in diesem Alter wohl bei allen eher die Seltenheit.
Der Novemberorkan; während andere sich beim Turnen mühten, saß ich trocken und warm im Dachgeschoß in der alten Bibliothek, pulte Reisig aus den Altbauwänden und summte "Lay down" von den "Strawbs" und machte mir so meine Gedanken zur "mutuellen Onanie" (um Mißverständnissen vorzubeugen: wirklich nur Gedanken ). Beträchtliche Sturmschäden, auch in den Wendbergen, doch kein Vergleich zum Weihnachtsorkan vor zwei Jahren im Südwesten. Und während ich das notiere, der 29. Jahrestag.
Das war mir schon im Anfang nicht möglich, "dabei" an "schöne" Jungs oder Mädchen, an solche zum Kuscheln und Knutschen zu denken; das ging immer erst zum "Schluß". Ein sehr Attraktiver wollte mal fast, allerdings erst mit den Älteren, die riefen mich, Georgie, hier ist was für dich. Irgendein Turnhallen-Sportwettbewerb, keine Ahnung, was ich da zu suchen hatte. Er auf dem Boden, ich neben ihm, ein wenig an seinem Hintern fummelnd; als ich das vertiefen wollte, lachte er und ging fort.
Der von der Hauptschule ließ sich bezahlen, genauer gesagt, mit Lakritz. Das ging nur im Toilettenhäuschen in der Nähe der Norddorfer Bushaltestellen, ein rot verklinkerter Neubau. Da mußte man reaktionsschnell sein, wenn plötzlich ein Erwachsener kam, und das kam ja schon mal vor; gesagt hat aber keiner was. Er fragte mich, ob ich mal krank gewesen; ich frage mich noch heute, was er und wie er das eigentlich meinte.
- Hans. Ich ahnte es seit Monaten schon; sehr still und mit vieldeutig-schamhaftem Blick. Ich folgte ihm aufs Neubauklo, stieg auf die Schüssel der Nachbarkabine und lugte über den Kabinenrand. Und: meine Ahnung erhärtete sich. Der kichert nicht rum, der kommt zur Sache. Ein Jammer, daß er keiner zum Verlieben war.
Langsam mußte ich die Altersgrenze nach oben korrigieren. Eigentlich sollte mit 16 ja Schluß sein, 16 aber, das war ich ja bald. Also mit 18; dann aber Schluß.
- Und das trotz Oscar Wilde. Kann sein, daß mal was im Fernsehen kam; vielleicht war's auch eine Schullektüre. In der Fahrbücherei dann was ausgeliehen. Und wenn er kein Hundertfünfundsiebziger wär, dann könnte er glatt ein Menschenfreund, erzählte ich meiner Mutter daheim, die gerade Flur und Treppe putzte und diesen Umstand tragisch fand, als wollte sie zum Ausdruck bringen, daß selbst ein Hundertfünfundsiebziger ansonsten durchaus ein guter Mensch, ja, womöglich sogar ein Christ.
Auf NDR 2 im "Fünf-Uhr-Club" "Space Oddity" und als Kontrast eine weitere "Hör Zu"-Empfehlung, Ensemble: John McLaughlin's Mahavishnu Orchestra, Obertitel: Birds of fire, Einzeltitel: Open country joy. – John McLaughlin. Der war, wie ich (vermutlich) ebenfalls der "Hör Zu" entnehmen konnte, sehr religiös und trug noch nicht mal Koteletten.
Endlich einen Adapter gekauft; ich kannte ja kaum das Wort. – Ein Bewerbungsschreiben, Zeitungsannonce, Lüneburg, gehobener Verwaltungsdienst. Zuvor mit meinem Vater zur Berufsberatung; der Berufsberater siezte mich und empfahl mir irgendeinen Fachschulbesuch. An der Realschule war die Berufswahl gerade mal ein Aufsatzthema; die Söhne von Bauern und Handwerksmeistern wußten ja eh, was sie werden. – Dirk Busch, Liedermacher? Schlagersänger? Chansonnier? und Professor für Soziologie, bestätigte mir in Bremen die These, daß die eigentliche Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs der Herbst 1973 war. Ab und an ist der bei meinem Sender zu Gast, doch wird er sich kaum wohl erinnern können.
8. März, Klassenfahrt nach Hamburg mit der jungen Biologielehrerin, die alle verbalen Erektionen, Ejakulationen und Kopulationen, ja, fast schon mit Humor ertrug, und freilich, es galt ja nicht ihr ; das hätte sich wirklich nun keiner gewagt. Und: was sollte ihr alter Kollege erst sagen? Der bereitete uns mit großem Ernst auf den Besuch des Planetariums vor und erntete einen Lacherfolg nach dem unfreiwilligen anderen; er schickte wohl die halbe Klasse vor die Tür, doch ich hielt mich da lieber zurück, die Pilze vielleicht, ich weiß es nicht; im Grunde war jeder Konflikt mit den Lehrern nur Zufall, ein bloßes Mißgeschick, zumindest aber kein einziges Mal gezielte Provokation.
Rektor Lüders, längst schon eine Respektsperson, mußte sich hier notgedrungen auf die Seite seines Kollegen stellen und mahnte uns kurz und ging gleich wieder fort, und die Schüler wieder ins Klassenzimmer. Im Deutschunterricht nun Brecht, Biermann und Degenhardts "Schmuddelkinder"; das war links, und ich fand es gut, nur blieb es für mein Verhalten gegenüber den "Schmuddelkindern" vor der eigenen Haustür ohne jegliche Konsequenz. Frau Bergmann sagte in Gemeinschaftskunde, China habe den Sozialismus weit besser verwirklicht als die Ostblockstaaten, wogegen ich heftig Protest erhob und trotzdem meine Eins bekam, ansonsten weit davon entfernt, so was zu sein wie ein Klassenprimus. Allein die Drei in Deutsch mußte weg; die war auch mir ein Makel.
- Und hat ja auch geklappt, und ebenso, daß ich trocken blieb im Hamburger Planetarium. – Vor dem Theaterbesuch am Abend ein Bummel durch eine Einkaufsstadt; ein Betonklotz im Hamburger Norden. Hier nun endlich "Starman" gefunden. Der mit der progressiven Singlemappe wagte sich in ein Sexkino rein; dort scheuchten sie ihn gleich wieder raus. – Warum nicht St. Pauli wie mit den Franzosen? Wie drückten wir uns die Nasen platt an den Schaufenstern der Erotikläden, und freilich: eine Hamburg -Fahrt, mit Hafenrundfahrt und all diesen Sachen; so kühn warn die Dörfler nun auch wieder nicht, nur wegen St. Pauli nach Hamburg zu fahrn. Schon '66, von Heidetal aus, war es eine Hamburg -Fahrt; wie drückte ich mir die Nase platt an den Schaufenstern dieser Musikalienhandlung mitten auf der Reeperbahn mit den großen roten E-Gitarren. Und: wer schon mit neun auf St. Pauli war, der mußte ein richtiger Junge sein; das andere, das "Eigentliche"... – Sicherlich später als '66, doch ganz gewiß in Ruhrstadt noch: Ich werde als Erwachsener in Hamburg wohnen und samstags zu den Nutten gehn und sonntags dann zu den Menschenfreunden, Buße zu tun wie ein Katholik, und eher ein Schicksal denn ein wirklicher Wunsch.
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