1 ...7 8 9 11 12 13 ...53 Der lichtgraue Himmel kündigte einen weiteren naßkalten Tag an. Windböen wirbelten ihm beißenden Rauch in die Augen, fluchend wandte er das Gesicht vom Feuer ab und schützte es mit angewinkeltem Ellbogen. Als er sein Versteck gefunden hatte, war er nicht zuletzt deswegen froh daß die Öffnung nach Westen wies, weil es durch den dahinterliegenden Berg gegen den schneidenden Ostwind geschützt wäre. Dafür war es jetzt dem West ausgesetzt, der zwar den Frost vertrieb, aber stattdessen Regen und Feuchtigkeit brachte.
Was immer die Zukunft für ihn bereithielt, es konnte nicht schlimmer sein als das, was der größte Teil seines bisherigen Lebens ihm beschert hatte. Auch der Tod nicht. Wenn er vor Hunger oder Kälte sterben würde, dann wenigstens als freier Mann, oder doch auf dem Weg dazu, einer zu werden, was für ihn das gleiche bedeutete. Das war es, was ihn darin bestärkt hatte, die erste Gelegenheit zur Flucht nach Einbruch der Winterkälte zu ergreifen. Hadhuin zwang sich damit gleich zu Anfang die härtesten Bedingungen auf, um sie entweder zu seiner eigenen Stählung zu überwinden oder daran zugrunde zu gehen. So oder so, er wollte nichts sehnlicher als es hinter sich bringen.
Er hatte seine Flucht nicht von langer Hand geplant. Der Impuls dazu war plötzlich über ihn gekommen, ausgelöst durch einen besonderen Umstand, den er vergeblich bemüht war, sich in Erinnerung zu rufen. Er wußte nur, daß er es nicht bereute ihm gefolgt zu sein. Nicht einen einzigen Augenblick.
Es wäre kaum dazu gekommen, wenn man ihn nicht verkauft hätte. Das befreite ihn von den Fußketten des Steinbruchs, denn sein neuer Herr, ein reicher Händler, brauchte ihn als Lastenträger. Damit galt er als Haussklave, und für einen solchen war das Tragen von Fußfesseln nicht üblich. Dies galt erst recht für ihn, dessen jetzige Verwendung eine entscheidende Verbesserung gegenüber der Schinderei des Steinebrechens bedeutete. War Flucht angesichts der harten Strafen bei der Ergreifung, wie auch der Widrigkeiten denen ein entlaufener Sklave ausgesetzt war, ohnehin schon unwahrscheinlich, so zog man sie bei jemand wie ihm schon gar nicht in Erwägung. Diese Sicht der Dinge war für Herren und Knechte gleichermaßen nachvollziehbar und entsprach so sehr der allgemeinen Auffassung, daß auch ihm zunächst gar nicht in den Sinn gekommen wäre, ihr zuwider zu handeln.
Lastenträger eines Händlers zu sein hieß mehr als alles andere, Lasttiere zu be- und entladen und sie von Verkäufer zu Käufer und wieder zurück zu treiben. Die Anstrengung stand in keinem Verhältnis zu den erbarmungslosen Bedingungen, denen er während der letzten zwölf Jahre unterworfen gewesen war. Hinzu kam, daß sein Herr sich freundlich zeigte und ihn überaus gut behandelte. Wie viel Vertrauen er in ihn setzte bewies er damit, daß er ihn bereits nach wenigen Monaten allein auf Botengänge schickte.
Tatsächlich konnte Hadhuin sein Glück zunächst selbst nicht fassen. In einem vor den Toren der Stadt gelegenen Hain, an dem er oft vorbeikam, stand ein der Pendari geweihtes Heiligtum, und er versäumte keine Gelegenheit, der Göttin dort ein kleines Dank-, manchmal auch Bittopfer darzubringen, soweit es seine Mittel, die die eines Besitzlosen waren, eben zuließen. So folgten die Tage aufeinander ab, und es waren die unbeschwertesten, die Hadhuin in seinem Leben je gekannt hatte. Ehe er sich versah, war ein ganzer Sommer dahingegangen.
Mit Einbruch des Winters wurde sein Gemüt von einer seltsamen Veränderung befallen. Zum ersten Mal wäre er für ihn nun gemildert durch Bedingungen, wie er sie nach der endlos erscheinenden Zeit im Steinbruch nicht mehr zu träumen gewagt hätte. Dagegen folgte sein inneres Wesen, ob er es wollte oder nicht, einem durch beständige Wiederholung eingeübten Ritual, und wappnete sich wie all die vorausgegangenen Jahre um die gleiche Zeit gegen die erbarmungslose Härte, mit der die Kälte der bevorstehenden langen Nächte und kurzen, lichtarmen Tage ihn und seinesgleichen immer getroffen hatte. Das Ergebnis war ein Zustand tiefer Verwirrung, wo er doch eigentlich hätte dankbar sein sollen, nicht mehr und nicht weniger.
Bis ihn eines Tages völlig unvorbereitet die Erkenntnis traf, daß es nicht anging. Pendari hatte das Rad für ihn weitergedreht, ja, und es würde auch weiterhin nicht stillstehen, weder für ihn noch für sonstwen. Das Glück war veränderlich wie der Mond: heute ein hell erleuchtetes Rund, dann eine dünne Sichel, und manchmal gar nicht zu sehen. Und es war, in der Tat, wie das Rad eines dahinrollenden Wagens, woran jede einzelne Speiche bald zu Boden wies, bald senkrecht nach oben gerichtet war. Aber was war er selbst, er, Hadhuin?
Er mußte sich eingestehen, daß er es nicht wußte. Wenn aber das Glück einem Rad und sein eigenes Leben einem Wagen glich, dann wußte er immerhin, was er sein wollte, nämlich der Lenker. Pendari teilte Glück und Unglück aus, mit vollen Händen oder spärlich bemessen, nach ihrem eigenen Gutdünken, aber wenigstens wollte er selbst die Richtung bestimmen, die das Gefährt seines Daseins nahm, selbst wenn er es direkt in den Abgrund steuerte. Diesen bereits unwiderruflich gefaßten Entschluß trug er im Sinn, als er das Heiligtum zu einem letzten Gebet betrat. Das war zwei Tage vor seiner Flucht gewesen, und der Winter regierte bereits mit eiserner Faust.
Er kam von der einen Tagesmarsch entfernt liegenden Burg eines Fürsten zurück, wo er Stoffe und Tücher abgeliefert und die vergangene Nacht verbracht hatte. Unterwegs hatte er am Wegrand eine flügellahme Taube gefangen. Es dämmerte bereits, als er das Lastpferd am äußersten Baum des Hains festband. Das Heiligtum selbst war eine Art steinerner Tisch, der als Altar diente. Er wurde von einer mächtigen, ausladenden Esche überragt und bestand aus vier unbehauenen, nur durch die Witterung geformten Teilen, von denen drei senkrecht in der Erde verankert waren. Unter der wuchtigen Abdeckung lag eine Klinge aus Feuerstein, deren Gebrauch für jedermann bestimmt war, der Pendari ein Blutopfer darbringen wollte. Die allgemeine Ehrfurcht vor der Göttin war so groß, daß nicht die allergeringste Gefahr eines Diebstahls aus dem ihr geheiligten Bezirk bestand. Hadhuin nahm das Messer von dem kleineren, abgeflachten Stein, wo es seinen Platz zwischen den drei Stützpfeilern hatte. Trat man von hinten an den Altar heran, konnte man mühelos eine weitere, flach auf dem Boden liegende Felsplatte ersteigen, um ihn zu überblicken. Hadhuin stellte sich mit dem Rücken zum Stamm der Esche, in einer Hand das Opfermesser haltend, mit der anderen seine Gabe darbietend, wobei er beide Arme weit von sich streckte. Er schloß die Augen und bemühte sich, alle seine Sinne auf die Anrufung der Göttin zu richten. In der zum festen Griff geschlossenen Linken spürte er das zum Zerspringen schlagende Herz des Vogels, der regungslos seines Schicksals harrte. Die Arme wurden ihm schon fast schwer, als er leise, um nicht vor dem schroffen Widerhall seiner eigenen Stimme zu erschrecken, eine Beschwörung murmelte.
Ein schneller, entschlossen ausgeführter Schnitt durchtrennte die Kehle des Täubchens, das ein letztes Mal den Schnabel zu einer lautlosen Klage öffnete und sich aus dem Griff seiner breiten Hand winden wollte. Hadhuin hielt es kopfüber, so daß sich sein warmes Blut auf den Stein ergoß, der schon mit dem Blut so vieler anderer Opfertiere durchtränkt war, und wer weiß, ob nicht auch mit dem von Menschen. Nach wenigen Augenblicken war alles vorbei. Hadhuin legte seine Gabe auf den Altar und ließ die letzten Blutstropfen von der Klinge abrinnen, ehe er sie wieder an ihrem Platz hinterlegte und sich anschickte, den Hain zu verlassen. Wenn er an einem der darauffolgenden Tage wiederkommen würde, wäre das Opfer wahrscheinlich verschwunden, und das wäre ein überaus gutes Zeichen. Es würde nämlich bedeuten, daß Pendari seine Gabe in Gestalt eines Fuchses oder Marders entgegengenommen hätte.
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