„Du läßt keine Gelegenheit verstreichen“ knurrte Faghnar, „das Volk der Vandrimar deiner Mißgunst auszusetzen. Welchen Verdacht du zugleich in mir nährst, weißt du selbst am allerbesten. Aber ich werde keine Anschuldigung aussprechen, die ich nicht angemessen begründen und mit Belegen untermauern kann. Dazu wirst du mich mit all deinen Listen nicht bringen.
Du wolltest wissen, was ich von Kadhlynaegh aus zu unternehmen gedachte. Und ich kam so weit dir zu berichten, welche Erkundigungen ich in der Stadt selbst einholte, und wie ich dabei vorging. Nachdem ich also Gewißheit erlangt hatte, daß die aus den hiesigen Wäldern drohende Gefahr bisher auf einzelne Vorkommnisse beschränkt blieb und nur entlegene Gebiete betraf, hielt ich mich jetzt, als Gehilfe Irmwyns des Schmieds, über den Hergang des Kriegs im Osten auf dem Laufenden. Und was ich dabei zu hören bekam, war fremdartig und beunruhigend. Der Krieg ist ein grausames Handwerk, ist es immer schon gewesen und wird es immer sein; aber was Irmwyns Auftraggeber durchblicken ließen, deutete eine ganz und gar ungeahnte Wendung an.
Zur Sonnwende beschloß ich, Mraeghdar in seinem Winterquartier aufzusuchen; so verließ ich Kadhlynaegh vier Tage später, um weiter flußaufwärts zu ziehen. War nun den ganzen Winter immer noch kein Schnee gefallen, außer vielleicht in den höchsten Berglagen, hatte doch die ganze Zeit über bitterer Frost geherrscht. Und dann, am dritten Tag meiner Wanderung, geschah was ich am wenigsten erwartet hätte: der Winter hätte gerade erst recht beginnen sollen, aber die Kälte floh aus dem Boden und selbst aus der Luft. Die Zweige der Bäume und Sträucher und die braungefrorenen Gräser auf den Weiden warfen den Raureif von sich ab wie eine Schlange ihr Schuppenkleid. Es geschah so offensichtlich zur Unzeit und bei falschem Wind, daß ich auf der Stelle wieder kehrt machte. Je weiter ich in die Ebene zurückkam, desto untrüglicher wurden die Anzeichen. Ich folgte der Biegung des Bhréandyr nach Norden, er führte ungewöhnlich viel Wasser für diese Zeit des Jahres. Gerne hätte ich einige Tagesreisen auf einem Floß zurückgelegt, aber ich fürchtete, der Strom würde mich zu weit am Gebirge vorbeitragen und mich so zu einem Umweg nötigen. Ich war auf die Zeichen der Erde angewiesen, um deinen Aufenthaltsort zu finden, nicht die des Wassers. Das einzige was ich mit Sicherheit wußte war, daß du deine Wohnstätte irgendwo in den Wäldern des Westens hattest. Das war wenig genug, aber doch besser als nichts.
Und dann, eines Morgens, sah ich die Natter.
Sie floh wie von Sinnen, aber nicht vor mir, sondern kam im Gegenteil auf mich zu. Sie kreuzte meinen Weg genau vor meinen Füßen, wand sich der aufgehenden Sonne entgegen, und sah mich entweder nicht, oder, was wahrscheinlicher ist, die Furcht vor dem was sie trieb war größer. Ich folgte ihr und stellte fest, daß ihr Weg pfeilgerade von einem nordwestlich gelegenen Punkt wegführte. Für mich endete er am Flußufer. Für die Viper hingegen nicht, sie stürzte sich geradewegs ins Wasser und schwamm auf das andere Ufer zu.
Unverzüglich kehrte ich dem Bhréandyr den Rücken, denn von jetzt an wußte ich genau, in welcher Richtung ich dich zu suchen hatte. Unterwegs vergewisserte ich mich noch mehrmals, und bei den Säulen der Unterwelt! wenn ich es der Natter gleichtat und mich flach auf den Boden legte, warst du nicht zu überhören. Dabei war ich noch viele Meilen von den Bergen entfernt, von dem Ort, wo ich deine Wohnstätte vermutete, ganz zu schweigen.“
„Jetzt bist du es nicht mehr.“
„In der Tat nicht. Ich hoffe nur, der Weg hat sich gelohnt.“
„Beschwerlicher als der nach Osten war er jedenfalls sicher nicht. Und außerdem nicht so weit. Aber sprich: was schürte in dir die Erwartung, von mir gerufen zu werden? So sagtest du doch, zu Beginn deiner Erzählung.“
„Ich habe genug geredet, Faowgh!“ rief Faghnar zornig. „Was kann nach all dem noch von Belang sein: unsichtbare Wesen aus dem Wald, die menschliches Besitztum, Straßen und urbar gemachte Erde scheuen, aber umgekehrt jeden massakrieren, der sich bei Mond in die Wildnis wagt.... sprach ich nicht schon deutlich genug? Unzählige Geschlechter kamen und gingen seit der Zeit der Eroberung. Die Vandrimar von heute sind nicht ihre Urahnen, denen allein sie zu verdanken haben, daß sie hier geboren sind. Sie sind unschuldig an ihren Taten. Warum sollen sie dafür büßen? Was ist das für eine Rache, die den Nachkommen trifft statt den Täter?“
Faowgh verzögerte die Antwort um wenige Augenblicke und hob so die Bedeutsamkeit seiner Worte hervor:
„Du sprichst also von Tätern, Rakhmyr, von Buße sprichst du und Rache. Nichts bleibt unvergolten, du weißt es selbst, das Schlechte sowenig wie das Gute. Notfalls zahlt einer an des anderen statt. Und wieviel Zeit auch vergehen mag, alles wird früher oder später beglichen. Auf die Unschuld der Urenkel pochst du. So vernimm: nicht weniger schuldlos waren die, die einst unter den Schwertern der Vandrimar fielen!“
Faghnar schloß die Augen und ließ das Kinn auf die Brust sinken, die Finger um den knorrigen, zwischen die Knie gestellten Stab herum geschlungen. Eine Weile verharrte er regungslos, scheinbar ohne zu atmen.
Dann hob ein ungeheurer Seufzer seine Brust. Aber die Heftigkeit, mit der er die eingesogene Luft wieder von sich stieß, verkündete eine aus Ingrimm und endgültiger Gewißheit geschweißte Haltung: Entschlossenheit. Nüchtern, kalt und unbezwingbar wie ein Fels, entsprang sie seiner Einsicht in den unabänderlichen Lauf der Dinge. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er den Blick scheinbar ins Leere gleiten. In Wirklichkeit hielt er ihn über Faowhgs Rücken hinweg auf einen Schatten gerichtet, der ihm eine Vertiefung in der gegenüberliegenden Felswand anzeigte.
„So sei es denn!“ verkündete er schließlich mit verhärteter Miene. „Aber ich warne dich, Faowgh: in diesem Fall wäre es von deiner Seite aus klüger gewesen, mich über die Ursache der Morde wie auch deinen genauen Aufenthaltsort im Ungewissen zu lassen.“
„Vergeltung“, entgegnete Faowgh, „wahre Vergeltung gibt es nur dann, wenn sie als solche erkannt wird. Wenn die Vandrimar selbst auch niemals erfahren, wofür sie büßen: du weißt es an ihrer Stelle. Du, der du dich rühmst, ihre Geschicke zu lenken und ihr Beschützer zu sein.“
„Ich darf annehmen daß, was ich bisher gesehen habe, erst der Anfang war?“
Unverändert starrte die schwarze Pupille aus der Glut des Augenballs zurück. Die spitz zulaufenden Zähne des Drachen ragten wie eine Reihe aufgerichteter Speere aus dem gewaltigen Kiefer. Das Sprechen war von keinerlei Bewegung oder Mienenspiel begleitet, denn Faowghs Stimme kam tief aus seinem Inneren:
„Ich hüte das Tor nach Ardhirunai, wie du weißt. Nicht von dort nach hier, wohl aber von hier nach dort. In diese Richtung war das Tor nur einmal geöffnet, lange genug, um jeden Laeghmar einzulassen, der dies begehrte. Wer sich innerhalb jener Frist nicht zum Gehen entschloß, mußte für immer diesseits bleiben. Aber unter den letzten die gingen waren viele, für die es bereits zu spät war. Sie finden keine Ruhe mehr in Ardhirunai. Ihretwegen bleibt die Pforte geöffnet, aber nur für den Weg herüber. Nach und nach kommen sie zurück. Bald werden die letzten hindurch sein; dann wird das Tor geschlossen, und für immer.“
„Was ist es, das diese Unglücklichen umtreibt?“
„Einzig der Wunsch nach Vergeltung, Rakhmyr. Nenn es Rachedurst, wenn du willst. All das vergossene Blut, es schreit noch immer zu ihnen. Selbst dort drüben können sie seinem Ruf nicht mehr entkommen. Unglückliche nennst du sie, und zu Recht, denn kaum daß sie wieder hier sind, quält sie die Sehnsucht nach ihrer eigentlichen Welt, deren Zutritt ihnen nun auf immer verwehrt bleibt. Für sie, die bereits in ihrem Licht gewandelt sind, gibt es nur eines womit sie den Schmerz ihrer Zerrissenheit betäuben können: unerbittliche und grausame Vollstreckung der Rache ihres Volkes. Und wie du schon sagtest, Rakhmyr: ihr Blutgericht hat gerade erst seinen Anfang genommen!“
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