Ich begriff Moors Dilemma: Im schonungslosen Licht der Öffentlichkeit befand er sich genau in der Mitte zwischen zwei Lagern: den rationalen Naturwissenschaftlern der wissenschaftlichen Abteilung der Kriminalpolizei und den idealistischen Völkerkundlern, für die ein Regenzauberer etwas so Selbstverständliches ist wie für den Normalverbraucher der Meteorologe mit seinen Prognosen am Ende der Tagesschau.
Aber auch ich selber stand ratlos in der Mitte des Ladens, etwa dort, wo Fränzis Leiche gelegen haben musste. Rund um mich stapelten sich, sauber nach ihrer Herkunft geordnet, Schattenspielfiguren aus Indonesien, seltene Doppelikat Stoffe aus Bali, Hakenfiguren vom Sepik, Fruchtbarkeitssymbole aus allen Kulturen Afrikas und Ozeaniens, dazu ebenso Furcht erregende wie betörende Masken von allen Kontinenten, ja selbst aus dem abgelegenen Haslital in der Schweiz. Wie sollte man in dieser Vielfalt einen Gegenstand finden, der – so es ihn überhaupt gab – etwas mit Fränzis Tod zu tun haben konnte?
Da kam Esther plötzlich ein Gedanke:
„Ich war mit Fränzi lange und eng befreundet. Deshalb kannte ich auch eine ganze Reihe von durchaus intimen Details aus ihrem Privat- und Berufsleben, die sie nie streng auseinanderhielt.
So weiß ich zum Beispiel, dass sie Anfang Dezember von einer ausgedehnten Tour durch den Pazifik und die indonesische Inselwelt zurückgekehrt ist. Schon am Tag nach ihrer Ankunft rief sie mich an um mir mitzuteilen, dass sie ein paar außergewöhnlich seltene Stoffe mitgebracht hatte, die das Museum sicher interessieren würden. Die Stücke seien so rar, dass sie sie von einem chinesischen Händler vorerst einmal nur in Kommission genommen hatte bis feststand, ob sie die Ware auch zu einem angemessenen Preis verkaufen könne.
Da ich selber die letzten zwei Wochen vor Weihnachten abwesend war, hatten wir uns vor ihrem Tod nicht mehr treffen können und am Telefon war sie nicht um alles in der Welt dazu zu bewegen gewesen, mir irgendwelche Details zu geben.
Fränzi hatte sich in den ganzen Jahren, die wir uns kannten, nie geziert, wenn es ums Geschäft ging. Folglich musste an dem Handel, den sie mir jetzt vorschlug, etwas Besonderes sein. Dem entsprechend habe ich, als wir das Inventar aufnahmen, alles, was mir in die Finger kam, mit Sperberaugen kontrolliert. Doch da war nichts Außergewöhnliches dabei. Auch Natascha, die Leiterin unserer Textilabteilung, eine Koryphäe von Weltruf, kam nach pingeliger Analyse des Materials zu dem Schluss, dass keiner der Stoffe, die wir bis jetzt untersucht haben einen Einbruch, geschweige denn einen Mord wert gewesen wäre.“
Das deckte sich auch mit meinem ersten Eindruck: alles, was Fränzi feilbot, war qualitativ hochwertig und rechtfertigte damit durchaus ihre nicht gerade bescheidenen Preise. Insgesamt aber orientierte sich ihre Kollektion eher an einem breiten Publikumsgeschmack und nicht an den ausgefallenen Wünschen elitärer Sammler. Waren die außergewöhnlichen Stoffe, von denen sie Esther am Telefon erzählt hatte, etwa schon verkauft worden, oder lagerten sie gar an einem anderen Ort? Ich versprach Esther und Kommissar Moor auf jeden Fall, mich in den nächsten Stunden einmal mit meiner praktischen Erfahrung mit orientalischen Textilien kritisch im Laden umzusehen.
Doch als das Mittagessen näher rückte, packte ich bereits enttäuscht einen letzten Ballen mit ' Bilum' genannten Netztaschen aus Papua-Neuguinea wieder zusammen und atmete tief durch. Eigentlich hatte ich in den letzten Stunden so viele Stoffe, Kleider, Gürtel und Hüte in den Fingern gehabt, dass ich darauf hätte stoßen müssen, wenn es hier tatsächlich etwas ganz Spezielles zu finden gegeben hätte. Musste ich unter diesen Umständen die Rolle mit geflochtenen Matten ohne Herkunftsbezeichnung, die zu meinen Füssen lag und über die ich schon ein paar Mal gestolpert war, trotz knurrendem Magen wirklich auch noch begutachten?
Mehr um einer Pflicht Genüge zu tun als aus Überzeugung knüpfte ich das Band auf, das die teils über zwei Meter langen Matten zusammenhielt.
Einige von ihnen waren durchgehend gemustert, andere nur am Rand verziert. Den Großteil hielt ich für so banal, dass ich mich fragte, weshalb Fränzi sie überhaupt gekauft hatte. Schlimmer noch: einige Stücke fielen durch Unregelmäßigkeiten auf, die eigentlich keiner geübten Flechterin unterlaufen durften. All dies führte mich nach wenigen Minuten schon zum Schluss, dass es sich bei dem Paket wohl um Ausschussware handelte, die aus diesem Grund auch achtlos auf dem Fußboden lag.
Ich teilte meine wenig aufschlussreichen Erkenntnisse Esther mit, die aus ihrer Enttäuschung kein Hehl machte. Während des Mittagessens einigten wir uns darauf, meine Mission vorzeitig abzubrechen. Dankenswerterweise übernahm es meine Kollegin, Kommissar Moor den Schlüssel und das magere Ergebnis unserer Arbeit zu überbringen.
Rückflug nach Port Moresby
Die Wunde an Alex Kopf ging derart tief, dass ich darauf bestand, sie nähen zu lassen. Das hätte zur Not auch ein Barfußdoktor, von den Einheimischen eher despektierlich ‘ Doktaboy’ genannt, in einem der ländlichen Gesundheitszentren von Beimuru oder Ihu erledigen können, vorausgesetzt, man hätte dort gerade chirurgischen Faden und eine sterile Nadel zur Hand gehabt. Da ich dessen nicht so sicher war und kein Risiko eingehen wollte, beschloss ich, meinen technischen Direktor nach Port Moresby zu fliegen, wo eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet war.
So stapften wir denn die Hauptstraße von Beimuru zurück in Richtung Flugplatz, wo wir unser Flugzeug, eine zweimotorige, in Italien gebaute Partenavia P68 , auf dem von Pauls Arbeitern einem Golfplatz gleich geschorenen Rasen abgestellt hatten. Da der Straßenunterhalt zu den wenigen Aufgaben gehörte, um die sich Paul nicht kümmerte, hatten wir nur die Wahl, entweder in einem Trampelpfad in der Mitte der Straße knöcheltief im Morast zu waten, oder durch kniehohes, vom Regen der vergangenen Nacht noch immer feuchtes Gras zu stapfen. Der Respekt vor Schlangen, deren Artenreichtum auf der Pazifikinsel alle Rekorde schlägt, ließ es uns ohne Zaudern angezeigt erscheinen, lieber den in keiner Weise dem Sprichwort entsprechenden „goldenen“ Mittelweg zu beschreiten.
Von überall her tauchten Eingeborene verschiedenster Herkunft auf: Die Mehrheit bildeten hellbraune Mischlinge aus dem schmalen Küstenstreifen der Papua Region, wo schon vor über hundert Jahren Matrosen aus aller Herren Länder vor Anker gegangen waren um billige Industriegüter gegen die ebenso unwiederbringlichen wie prunkvollen Federn des Paradiesvogels oder die vor allem in Asien hoch geschätzten Häute und Genitalien von Reptilien einzutauschen.
Da die Seefahrer amourösen Abenteuern ebenso wenig abgeneigt waren wie die immer neugierigen Einheimischen und sich beide herzlich wenig um allfällige Konsequenzen ihrer Schäferstündchen scherten, floss in den meisten Adern gemischtes Blut.
Unter den Frauen stachen die Polynesierinnen wegen ihrer Anmut hervor: mit ihren ebenförmigen, schlanken Körpern auf die endlose, blauschwarz schimmernde Haare fielen, kamen sie dem Schönheitsideal der durch die Gemälde von Gaugin berühmt gewordenen Südsee Insulanerinnen äußerst nahe.
Den krassest denkbaren Gegensatz zu ihnen bildeten die kleinwüchsigen Hochländer aus den abgeschiedenen Bergtälern um Goroka , Mount Hagen und Tari . Ihre gedrungenen Körper mit überentwickelten Gesäßmuskeln und krallengleichen Zehen zeugten davon, dass diese Menschen in ihrer Heimat vorwiegend an immer feuchten, glitschigen Berghängen herum kletterten. Ihre tief zerfurchten, steinzeitlichen Gesichter aus denen oft grimmig dreinblickende Augen funkelten, flößten selbst ihren nächsten Nachbarn, die ihnen weder am Anthrazit der Hautfarbe, noch an der Krause des Haares nachstanden, Unbehagen, wenn nicht gar Respekt ein.
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