Zuerst blendete ihn das grelle Neonlicht, dann verschlug ihm, dem halb Erfrorenen, die Hitze im Innern des Ladens fast den Atem. So kam es, dass er fast über den Körper von Fränzi Müller gestolpert wäre, die mitten im kleinen Laden auf dem Rücken auf dem Fußboden lag. Ihre helle Bluse war
Blut getränkt; ein feines Rinnsal von Blut sickerte ebenfalls unter ihrem Körper hervor. Die junge Frau hatte die Augen weit geöffnet, doch ihr Blick war gebrochen. Kein Zweifel: Fränzi Müller war tot.
Hauri bekundete einige Mühe, einen kühlen Kopf zu bewahren. Als Hilfspolizist war er ausgebildet worden, den ruhenden Verkehr zu überwachen und kleine Aufgaben im Bereich des Ordnungsdienstes wahrzunehmen, nicht aber dazu, bei Unfällen oder gar Verbrechen einzugreifen. Nachdem er einige Minuten lang Fränzi hilflos angestarrt und erfolgreich seinen Mageninhalt mehrmals wieder hinunter-geschluckt hatte, rang er sich dazu durch, die beiden Frauen vor der Türe aufzufordern, sich noch einen Augenblick zu gedulden aber ums Himmels Willen nicht wegzulaufen. Dann kehrte er zurück in den Laden, ergriff mit seinem Taschentuch, wie er es in Kriminalfilmen gesehen hatte, den Hörer des Telefons um keine Spuren zu verwischen und wählte die Nummer der Kantonspolizei. Sollten sich doch die gut bezahlten Herren in ihren saloppen Zivilkleidern an der Leiche, um die sich eine immer größere Blutlache bildete, die Finger schmutzig machen.
Ich erfuhr vom Tod von Fränzi Müller auf dem Flug aus Papua-Neuguinea in die Schweiz durch eine kurze Meldung unter der Rubrik „Vermischtes“ in der Neuen Zürcher Zeitung . Unter dem Titel: „Mysteriöser Mord an Geschäftsfrau“ las ich da, dass die Inhaberin eines Fachgeschäfts für völkerkundliche Kunstgegenstände in ihrem Laden in Zofingen erstochen aufgefunden worden war. Das Besondere an dem Verbrechen war, dass es keinerlei Hinweise auf den Täter oder die Tatwaffe gab, obwohl während des ganzen für den Mord in Frage kommenden Zeitraums Polizei und Feuerwehr direkt vor dem Ort des Verbrechens im Einsatz gestanden waren. Auch über das Motiv der Tat bestand Unklarheit, denn ersten Abklärungen zufolge waren weder Geld, noch Sachgüter entwendet worden.
Da es in Zofingen nur eine Boutique für Ethnologica gab, stand für mich umgehend fest, dass es sich bei dem Opfer um Fränzi Müller handeln musste.
Ich hatte Fränzi während meiner eigenen Studienzeit kennen gelernt. Sie war einige Jahre älter als ich und hatte die Universität eigentlich schon verlassen, als ich damit begann, mir mein akademisches Rüstzeug als Völkerkundler zu holen. Dennoch gab es Berührungspunkte, vor allem über das Völkerkundemuseum, das in dem Zeitraum, in dem ich dort meine Praktika abverdiente, zu den wichtigsten Kunden von Fränzi gehörte. Dort lernte ich sie als fröhliche, unkomplizierte Kollegin schätzen, die weder mit einem Komplex herumlief, weil sie die Universität ohne akademischen Abschluss verlassen hatte, noch mit einem Dünkel, weil sie sich zu den raren Spezialisten zählen durfte, denen international geachtete Sammlungen Kaufaufträge anvertrauten.
Wenn ich ihr in der Stadt gelegentlich über den Weg lief, befand sie sich häufig in der Begleitung von – ständig wechselnden – Männern, die eines gemeinsam hatten: sie alle waren älter als Fränzi, besaßen oft schon angegraute Schläfen, trugen maßgeschneiderte, für ihr Alter etwas zu salopp geschnittene Anzüge und boten mit Vorliebe Goldkettchen oder Raubtierzähne auf ihren Solarium gebräunten Brüsten zur Schau. Wahrscheinlich fuhren sie auch silbergraue Porsches oder rote Ferraris.
Fränzis Tod berührte mich wohl, er weckte in mir aber noch mehr Neugier. Deshalb rief ich nach den Weihnachtsfeier-tagen Esther an, eine Mitarbeiterin des Völkerkunde-museums, von der ich wusste, dass sie mit Fränzi befreundet war. Die erinnerte sich, dass ich in der Region Zofingen wohnte und schlug mir vor, sie gleich am nächsten Tag am Tatort zu treffen, da sie dort im Auftrag des Museums zusammen mit der Polizei das Inventar aufnahm.
Die Leitung der Untersuchung lag in den Händen von Kommissar Moor, einem drahtig aussehenden Mittdreißiger, der genauso gut hätte Sportlehrer sein können. Er begrüßte uns kollegial und bat uns, in Fränzis Laden einzutreten.
Mir lief es kalt über den Rücken, als ich über die Schwelle des Raumes schritt, in dem Fränzi ums Leben gekommen war.
Moor rekapitulierte kurz die Fakten, die bis jetzt feststanden:
„Franziska Müller, von allen ‚Fränzi’ genannt, ist in diesem Raum am Samstag, den 19. Dezember, kurz vor zehn Uhr morgens ermordet worden. Wir kennen die Tatzeit so genau, weil wir sowohl einen Zeugen haben für den Zeitpunkt, zu dem sie den Laden aufgesperrt hat, als auch einen für den Zeitpunkt an dem sie darin tot aufgefunden wurde. Da der Gerichtsarzt bereits 5 Minuten später zur Stelle war konnte er uns mit Sicherheit bestätigen, dass der Tod maximal 20 Minuten vor seinem Eintreffen eingetreten war, das heißt frühestens um 09.50 Uhr und spätestens um 10.00 Uhr. Von einer derart genauen Bestimmung des Todeszeitpunkts kann man als Polizist eigentlich nur träumen. Aber ausgerechnet im vorliegenden Fall kompliziert diese Präzision die Aufklärung eher: Ein vor dem Nachbarhaus postierter Kollege hat nämlich geschworen, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesen zehn Minuten niemand das Haus von der Straße her betreten hat.Das wäre nun immer noch gut und recht, wenn es zu diesem Laden eine Hintertüre oder Nebeneingänge gäbe. Aber leider gibt es nichts von alledem. Der Laden besitzt nur eine einzige Türe neben einem kleinen Schaufenster an der Stirnseite, sowie zwei doppelt verglaste Fenster an der Längsseite. An Nebenräumen im Innern gibt es eine kleine Toilette mitWaschbecken und einen ebenso winzigen Abstellraum, der mit Schachteln verstellt ist. Unmöglich, dass sich hier jemand über einen längeren Zeitraum hätte verbergen können. Außerdem sind alle Fenster und die Türe unversehrt. Ein Einbruch scheidet damit aus technischen Gründen aus.“
„Wie ist Frau Müller eigentlich ums Leben gekommen?“ wagte ich den Kommissar zu unterbrechen.
„Auch das wüssten wir selber nur allzu gerne“, seufzte Moor.
„Ursächlich ist das Opfer an einer Stichwunde ins Herz gestorben. Es handelt sich um einen einzigen Stich, der von vorne fast horizontal mit einem großen, spitzen und scharfen, wahrscheinlich dolchartigen Gegenstand beigebracht wurde. Er war sofort tödlich und muss von einer eher kräftigen Person ausgeführt worden sein. Nichts deutet darauf hin, dass ein Kampf oder – von Seiten des Opfers - auch nur der Versuch einer Abwehr stattgefunden hätte. Unnütz zu betonen, dass wir auch von der Tatwaffe keine Spur gefunden haben. Kurz: Wir tappen zwei Wochen nach der Tat noch immer absolut im Dunkeln.“
„Aber zumindest, was das Motiv angeht, scheinen sie gewisse Vorstellungen zu haben“, meldete sich Esther zu Wort.
Moor winkte ab:
„Die Beziehungs-Fährte hat uns bis jetzt nirgendwo hingeführt. Sicher, Frau Müller hatte eine gewisse Anzahl von Männern gekannt. Aber sie war eher der Typ von emanzipierter Frau, die einen Mann anlacht, wenn er ihr gefällt. Das hat dann wenig mit Liebe zu tun und schafft kaum Voraussetzungen für ein Verbrechen aus Leidenschaft.“
„Bleibt also nur der geheimnisvolle Inhalt des Ladens hier“, überlegte ich laut.
„Ganz genau“, stimmte mir Moor eifrig zu, legte allerdings umgehend seine Stirn in Falten und gab zu bedenken: „Auf dieser Ebene stoßen wir natürlich schnell an die Grenzen dessen, wo uns konventionelle kriminalistische Methoden weiter helfen. Stellen sie sich vor, was passiert, wenn wir einem unserer Gerichte mit Beweismitteln wie Schnitzereien aus Papua-Neuguinea kommen und dazu über Götter, Geister und Magie referieren. Dann werden uns nicht nur die Juristen rauswerfen, dann werden uns auch die Medien in der Luft zerreißen.“
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