Für einen kurzen Moment blickte sie in zwei faszinierend braune Augen.
»Du solltest die Cops rufen, bevor der Kerl wieder klar im Kopf ist.«
Mit diesen Worten drehte sich der fremde Retter um und verschwand genauso schnell, wie er erschienen war. Es ging alles so schnell, Sam hatte ihn nicht mal nach seinem Namen fragen können, um sich bei ihm zu bedanken. Trotzdem würde sie ihn immer wieder erkennen. Er war groß, hatte eine durchtrainierte Figur, sah unheimlich gut aus und diese Augen. Samantha schüttelte kurz den Kopf um wieder klar denken zu können. Nachdem sich Sam wieder gefasst hatte, wählte sie den Notruf der Polizei.
Es dauerte nur einige Minuten, da waren auch schon aus der Ferne die Sirenen des Polizeiwagens zu hören.
Zwei Polizeibeamte stellten Fragen über den Hergang des Überfalls. Sam konnte ihnen detaillierte Angaben und sogar Bildmaterial zur Verfügung stellen. In Los Angeles waren Überfälle auf Geschäfte an der Tagesordnung. Aus diesem Grund entschied sie sich für eine Überwachungskamera, deren Anschaffung sich gerade als hilfreich erwies. Jetzt nahm einer der Beamten dem immer noch am Boden liegenden Maskierten die Maske vom Gesicht. Eigentlich wollte sie nicht wissen, wer er war oder wie er aussah. Im nächsten Augenblick war Sam jedoch erschrocken, wie jung er aussah. Kaum zu glauben, fast noch ein Kind. Er konnte höchstens 15 oder 16 Jahre alt sein.
Ihre Mutter hatte sich inzwischen in einen der bequemen Sessel gesetzt. Sie sah blass aus, offenbar ging es ihr nicht ganz so gut. Sam holte ihr ein Glas Wasser.
Das Geschäft besaß Samantha Black bereits seit sechs Jahren und noch nie hatte jemand versucht sie auszurauben. Insgeheim hoffte sie, dass das auch nicht noch einmal passieren würde. Wenn dieser Unbekannte nicht aufgetaucht wäre, sie wollte sich nicht ausmalen, was noch hätte geschehen können. Die Polizeibeamten legten dem Täter Handschellen an und nahmen ihn mit.
Sam ging der Fremde nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah sie ihn vor sich. Sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen. Es kam ihr vor, als hätte sie ihn schon einmal irgendwo gesehen. Seine Stimme, seine Art, wie er sich bewegte. Sam versuchte sich zu erinnern, wo sie ihm schon mal begegnet sein könnte. Vielleicht hatte sie sich aber auch nur geirrt und ihre Einbildung war wieder einmal stärker.
Seit einigen Tagen herrschte in L.A. Hochbetrieb. Die Oskarverleihung stand vor der Tür. Jeder, der auf diesem Event dabei sein wollte, versuchte sich so schick wie nur möglich herauszuputzen. Da die meisten Sachen in Samanthas Geschäft von Schauspielern und anderen Prominenten in der Regel nur einmal getragen wurden, hatte sie in ihren Regalen und auf den Kleiderständern fast neuwertige Waren. Ihre Stammkunden wussten dies natürlich und so rannten sie ihr sozusagen die Tür ein. Für Sam war es gut, der Umsatz war gigantisch und genau deshalb hatte sie den Vorfall vor etwa zwei Wochen nicht vergessen.
Die meiste Zeit versuchte sie gelassen zu wirken, kam aber nicht umhin, ihre Umgebung mit anderen Augen zu sehen. So entging Samantha auch nicht, dass seit diesem bewussten Tag auf der gegenüberliegenden Seite in unterschiedlichen Abständen ein schwarzer Landrover parkte. Durch das Seitenfenster des Wagens erkannte sie den Mann, der ihr und ihrer Mom am Abend des Überfalls geholfen hatte. Sam war sich relativ sicher, dass er sie und ihr Geschäft beobachtete. Auf unerklärliche Weise war sie froh darüber, dass er in ihrer Nähe war.
Ihrer Mutter hatte sie nichts davon gesagt. Wie sie ihre Mom kannte, wäre sie sofort über die Straße zum Auto gelaufen oder hätte die Polizei gerufen. Sie versuchte schon immer ihre Tochter zu beschützen. Das tat sie schon früher mit einer Hingabe, die Samantha manchmal fast erdrückte.
Vor etwa zehn Jahren zogen beide von Kolumbien nach Los Angeles zurück. Sams Mutter arbeitete im Auswärtigen Amt in Bogota als Dolmetscherin und ihr Vater leitete den Fuhrpark der amerikanischen Botschaft. Er liebte Autos. Eines Tages verschwand er spurlos und niemand hatte jemals wieder etwas von ihm gehört. Jede Suchaktion blieb erfolglos. So entschied sich ihre Mutter aus Kolumbien wieder zurück in die Staaten zu ziehen. Aus irgendeinem Grund war sie immer noch davon überzeugt, dass ihr Mann, Sams Dad noch am Leben war.
Manchmal hatte sie das Gefühl, ihre Mutter würde ihr etwas verschweigen. Sam glaubte, dass sie mehr über das Verschwinden ihres Vaters wusste, als sie ihr gegenüber zugab.
Am Ende dieses Tages hatte sich Sam fest vorgenommen, unter dem Vorwand sich zu bedanken, hinüber zu diesem Fremden zu gehen. Sie würde den Mann darauf ansprechen, warum er beinahe jeden Tag dort stand und sie beobachtete. Auch wenn sie sich vielleicht danach lächerlich vorkommen sollte, sie wollte es einfach wissen.
In diesen Tagen hatte sie keine festen Ladenschließzeiten. Wenn sie der Meinung war, es würden keine Kunden mehr kommen, dann verschloss sie die Tür und machte Feierabend. So auch an diesem Abend. Es war kurz vor 22 Uhr als Sam den Schlüssel ins Schloss steckte, um den Laden zu schließen. Allerdings kam sie nicht mehr dazu, denn gerade als sie den Schlüssel umdrehen wollte, stand der Mann aus dem Landrover vor ihr. Fast blieb ihr das Herz vor Schreck stehen, aber irgendwie spürte sie keinerlei Angst ihm gegenüber.
Für einen kurzen Moment sahen sich beide an.
»Ich muss mit dir sprechen«, sagte er durch die geschlossene Glastür zu ihr.
»Mit mir sprechen, warum?«
»Lass mich bitte herein, dann werde ich es dir erklären.«
Im ersten Moment überlegte sie, ob es nicht gefährlich wäre, ihn so spät noch herein zu lassen. Doch andererseits war sie natürlich neugierig auf ihn. Er sah gut aus, hatte einen warmherzigen Blick und überhaupt, warum eigentlich nicht. Immerhin hatte er ihr das Leben gerettet, warum also sollte er ihr jetzt etwas antun wollen. Mit einem kurzen Nicken zeigte sie ihre Zustimmung und öffnete die Tür, die sie gleich wieder hinter ihm verriegelte.
»Ich gehe mal davon aus, dass du mich nicht mehr kennst?«, sagte der Fremde zu Sam.
Überrascht, sah sie ihn an.
»Sollte ich es denn?«, fragte sie.
Auf seinem Gesicht zeigte sich ein verschmitztes Lächeln. Offenbar war er über ihre Frage belustigt.
»Nun«, begann er zögerlich, »ich habe damals als Laufbursche im Autofuhrpark deines Vaters ausgeholfen.«
»Bei meinem Vater? Du meinst in Kolumbien, in der amerikanischen Botschaft?«
»Genau dort, Sam. Habe ich mich denn wirklich so sehr verändert?«
Für einen kurzen Moment holte sie sich alle Erinnerungen an diese Zeit zurück in ihr Gedächtnis. Dann plötzlich fiel es ihr wieder ein.
»O nein! Du bist Rick?«
Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Du sagst es, Ricardo Cruz.«
Sam musste sich erst einmal hinsetzten. Im Augenblick überschlugen sich alle ihre Gedanken. »Rick«, sagte sie wie zu sich selbst. Jetzt wusste Sam, warum sie so ein Gefühl hatte diesen Mann zu kennen.
»Was machst du hier? Ich habe dich im Auto gegenüber gesehen. Du hast mich die ganze Zeit beobachtet. Warum? Hast du mich gesucht oder ist es nur ein Zufall? Weißt du vielleicht etwas über meinem Vater?«
Er legte seine Hand auf Sams Schulter und sagte in einem ruhigen Ton:
»Sam, ich werde dir alle deine Fragen beantworten, nur könnten wir bitte woanders hingehen? Ich möchte nicht, dass uns deine Mutter überrascht. Okay?«
Sie sah Rick immer noch mit großen Augen an und konnte es kaum fassen, dass sie ihn nicht sofort erkannt hatte. »Ja, ja natürlich, gehen wir ins Büro und meine Mom kommt heute nicht. Donnerstags ist sie mit ihren Freundinnen beim Bingo. Du kannst also ganz beruhigt sein.«
Sam schaltete die Lampen im Verkaufsraum aus und gemeinsam gingen sie durch einen schmalen Gang in ihr Büro.
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