An zig weiteren Abenden quälte er sich mit dem Konvexglas vor Augen durch die nur mehr fragmentarisch erhaltenen Schriften – Seiten fehlten, Seiten waren beschmutzt, Seiten klebten aneinander – in der Hoffnung, den Zeilen entnehmen zu können, was im Kopf seines Patienten vorging. Wann dessen Trauer pathologische Züge annahm.
Aus Angst, seine Beine würden ihn nicht tragen, hatte Balder am Tag der Beisetzung, siebzehn Tage nach Elias' Tod, zwei Paroxetin eingeworfen (ein Arzneistoff zur Behandlung von Depressionen und Angststörungen), war Dellmann zu entziffern gelungen, nachdem er zwei aneinanderhaftende Seiten behutsam voneinander getrennt hatte.
Als weilte der Junge mitten unter ihnen und er, Balder, wäre nur gekommen, all die tadellosen Gesichter zu bestaunen, die so unberührt wirkten wie einst das eine, so sei ihm gewesen, stand geschrieben, als er den Friedhof betrat und die vielen Schüler sah, von denen einige im Stimmbruch zu tuscheln begannen.
Schöne Gesten habe der Kirchenmann getan, in seinem glitzernden Gewand, und gesprochen schöne Worte in der Trauerhalle von Melaten:
Wie ein Rosenstock, der im Winter ausgetrocknet, hart und abgestorben erscheint, noch die ganze Lebenskraft des Erblühens in sich trägt, so ist Elias mehr als nur ein toter Junge. Er geht mit euch allen, die er geprägt hat und die ihn geprägt haben, weiter ins Leben, wenn ihr ihn in euren Herzen - wie eine Rose - gut bewahrt.
Das ist Isolation, das ist Stille, hatte Balder gedacht, als die Urne beigesetzt wurde, in die so viel hineinpasste: ein ganzer Sohn, ein ganzes Leben. All die Jahre. Die gemeinsamen Jahre. Nichts davon war mehr zu sehen, nur Dunkelheit. Feinkörnige, poröse Dunkelheit.
Er wollte gar nicht dort sein. Er stahl sich davon – in eine Erinnerung. Die gedankliche Nähe zu dem Jungen – daran erinnerte er sich noch mit ungeheurer Deutlichkeit – versetzte ihn in eine fast erlösende Stimmung.
Und obgleich er am 30. November im Regen und später, über seinen Notizen den Stift führend, im Geiste der Bestattung beiwohnte, war Balder gewillt, an dem Irrglauben festzuhalten, dass der Junge da draußen noch irgendwo sein müsse – so tickte sein Hirngespinst, das er um sich spann, um wie Raupen von Motten zu sein; geschützt in ihren Gespinsten.
Wie in einem Traumbild, das nach dem Erwachen noch vor dem inneren Auge steht, sah er den Sohn im Hochbett liegen. Frühes Morgenlicht drang durch die Jalousien in den dämmrigen Raum und zeichnete helle Streifen auf die Bettdecke. Füße, die 14 Jahre, 4 Monate und 13 Tage zuvor erstmals den Boden berührten, schauten ein wenig müde noch darunter hervor.
Hingebungsvoll verstieg sich der kleine Romeo in die Vorstellung, mit Franziska in der Wanne zu liegen.
Das Bad kannte Elias bereits. Er hatte die Wohnung schon einmal betreten. Franziska war allein zu Haus gewesen. Hatte am Fenster gestanden und war bei seinem Anblick gleich dahingeschmolzen. Da war er einfach hineinspaziert. Allein aus dem Baden wurde nichts.
»Sag mal, wovon träumst du. Ich hab schon genug Ärger am Hals! Ohne dieses ›liebst du mich‹ und ›in der Wanne liegen‹ fand ich das sehr lustig mit dir! Aber das ... fast glaube ich, ich bin noch nicht bereit für die Liebe – auch wegen Ferdinand«, hatte er sich anhören müssen.
Und Jenna hatte zu allem Übel noch Verständnis für Franziska: Manchen Jungs sei Fußball eben auch wichtiger, hatte sie gesagt, und er hatte noch gelacht, ein wenig, um ihr zu gefallen.
Als er seinen Namen rufen hörte, schlug er die Bettdecke beiseite und huschte barfüßig zur Toilette. Klappte den WC-Sitz hoch und urinierte im Stehen, was die Mutter glaubte, ihm aberzogen zu haben. Er lag gut in der Hand und war noch ein wenig steif, wie vom Liebemachen. Obwohl kein einziges viriles Haar daran war, ließ er Gefühle durch sein pubertierendes Inneres gehen, wenn er an Franziska dachte, an Jenna, an Lara.
»Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll«, hatte Franziska einmal gesagt, als sie hell-, er dunkelblond, sie also blond in blond beieinanderstanden.
»Ich kann doch nichts dafür, wenn die sich mir an den Hals werfen. Ich hab denen nie schöne Augen gemacht. Das musst du mir glauben.«
»Ach ja. Und Laras Eintrag. Die hat Schatzi auf deine Pinnwand geschrieben. Da dachte ich halt. Ach egal.«
»Und du. Du bist doch lieber bei Ferdinand, statt Zeit mit mir zu verbringen.«
»Und wenn schon. Jungs stehen doch auf Mädchen, die reiten, wegen dem strammen Po«, hatte Franziska clever gekontert, sich verabschiedet, und an den Abenden wurde fleißig telefoniert. »Wenn's passt und der Herr nicht mal wieder zu beleidigt ist.«
Der Junge schüttelte seinen dünnen Jungenpenis und verstaute ihn in der Schlafanzughose. Seine Gefühle trug er noch im Gesicht spazieren, als er mit »Morgen Mama« die willensstarke, im Sternzeichen Stier geborene Frau begrüßte, die mit einem Mascara Pinsel Wimperntusche auftrug.
»Wieder keine Schlappen an. Du wirst dich erkälten!«, mahnte sie, bevor sie das Bad freigab.
Er zog das Pyjamaoberteil aus, drehte am Wasserhahn und tänzelte, während er sich wusch, von einem Fuß auf den anderen. Der Fliesenboden fühlte sich kalt an unter den nackten Sohlen. Das geriffelte Glas ließ kaum Sonne durch. Dafür stank es nicht in dem gekachelten Raum mit dem Keramikbecken, dem Spiegelschränkchen, der Badewanne aus Emaille beschichtetem Guss et cetera. Die Toilette war separiert.
Nach der Waschung richtete er mit wenigen Handgriffen sein dichtes Haar, das vom »Auf-der-Seite-Liegen« morgens immer wild abstand, und betrachtete sich prüfend im Wandspiegel. An ihm war noch nichts ausgeprägt Maskulines. Bis auf eine kleine, leicht gerötete Wölbung am Kinn, die sich demnächst anschicken sollte, als Pickel durch die Haut zu stoßen, gefiel ihm, was er sah.
Elias tastete den Akne-Vorboten forschend ab und kam zu dem Schluss, Franziska so noch unter die Augen treten zu können, in die sie ihm erstmals gefallen war, als sie dem Graphen f(x) = 3x - 7 Interesse abringen sollte. Sie ließ eine Strähne durch ihre Finger gleiten, verträumt, geistesabwesend, bevor sie ihre zierliche Gestalt zur Tafel bewegte – gar nicht mal schlecht in Mathe, kalt erwischt, mit den Gedanken ganz woanders. Für Elias stand »f« für erste Liebe und »x« war sein ganz persönlicher Unsicherheitsfaktor. Und sie, zum Kuckuck, sollte nun wissen, wie groß die Steigung ist. So perfekt sich auch der Jeansstoff um ihre Pobacken spannte, so gekonnt sie den Thorax einen Tick vorschob, ihren unberührten Jungmädchenkörper noch formschöner erscheinen zu lassen, der Pädagoge ließ sich nicht beirren. Er wollte prüfen, zensieren, die Lösung aus ihrem Mund hören.
Sie sah, während sie sich an der Tafel ihren hübschen Kopf zerbrach, irgendwie süß aus. Auch war ihr Busen klein genug, dass Elias sich in sie verlieben konnte. Denn lockend sind Brüste, die nur ein wenig hervorstehen, wenn man vierzehn ist; einem das Herz in den Ohren pocht beim Versenden einer SMS und die Antwort – Auch ich würde für dich gerne mehr als nur eine Klassenkameradin sein – es zwei Oktaven höherschlagen lässt.
Um zwanzig vor acht trat Elias aus der Haustür, beäugt von der schrulligen, alten Dame, die hinter Gardinen auf jedwede Regung lauerte und spätestens Ende November »selbst schuld ist der Junge« denken und auch verlauten lassen würde.
Da die Mutter ihm sagte: »Nimm heute das Rad«, nahm er das Rad. Gewöhnlich schaffte er die Strecke in knapp zehn Minuten, die Aachener Straße rauf, vorbei am Friedhof Melaten – die Inschrift: Transi Non Sine Votis Mox Noster« (Geh nicht vorüber ohne fromme Gebete, Du, bald der Unsrige) würdigte er keines Blickes – bis hoch zum Gymnasium Kreuzgasse, wo er auf dem Pausenhof nach Franziska Ausschau hielt.
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